Theaterkasse
Maximilianstraße 26-28
Mo-Sa: 11:00 – 19:00 Uhr
+49 (0)89 / 233 966 00
theaterkasse@kammerspiele.de
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Hier finden Sie Ansprechpartner*innen aus der Dramaturgie, Kunst und Technik.
von Mehdi Moradpour und Francesca Horvath
Auf der Bühne entsteht eine Landschaft aus Körpern. Sie erzeugen in ihren Bewegungen Bilder und Tableaus von Gleichheit und Individualität, von Eigensinn und Abweichung. Diese Körper suchen, entdecken und berühren sich, und begegnen einzeln und im Kollektiv nicht nur sich selbst in Empathie, sondern auch anderen.
„Joy 2022“ ist vor allem eine Begegnung mit Geschichten, Praktiken und Energien. Inspiriert von Carolee Schneemanns Performance „Meat Joy“ von 1964 gehen der Choreograf Michiel Vandevelde gemeinsam mit Ensemblemitgliedern der Münchner Kammerspiele sowie Akteur*innen der Sexpositivity-Szene als Versuch der Frage nach, wie freudvolle queere Intimitäten aussehen könnten. Bei der sexpositiven Bewegung geht es darum, die eigene und die Sexualität anderer sowie die Vielfalt an Sexualpraktiken wertfrei anzunehmen. Demnach ist Sex ist keine Naturgewalt, sondern etwas, worüber man lernen kann.
Schneemann konzipierte “Meat Joy” als erotischen Ritus. Zu dieser Zeit waren Darstellungen sexueller Akte und nackter Körper in Bewegung in den USA staatlich verboten. In dieser eingeschränkten künstlerischen Freiheit suchte Schneemann nach einem sensorischen Erleben von Fleisch, um die individuelle Verbindung zu unseren Träumen und Mythen wieder aufleben zu lassen. Das Zeigen von fleischlichen Berührungen, sei es mit rohem Fisch oder menschlichen Körpern, die sich wild aneinander reiben sowie die Tatsache, dass sexuelle Lust jenseits des Vorgangs von Penetration erlebt werden kann, stellten in den 1960er Jahren einen Skandal dar.
Neben „Meat Joy“ verwendet „Joy 2022“ weitere künstlerische Arbeiten als Inspirationsquellen. Dazu gehören Werke der zeitgenössischen bildenden Künstlerinnen Ghada Amer und Sanam Khatibi, die sich der weiblichen Sexualität sowie der Beziehung zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht widmen. Die 11 000 Jahre alte Skulptur „Die Liebenden von Ain Sakhri“, welche das erste bekannte Zeugnis eines menschlichen Geschlechtsaktes ist, liefert eine weitere Referenz. Das aus der Natufien-Kultur stammende Relikt zeigt je nach Perspektive des Betrachters oder der Betrachterin weibliche Brüste, eine Vulva oder ein Glied, während die Geschlechter der Liebenden nicht bestimmt werden können.
Photo of an 11 thousand year old sculpture believed to depict a couple having sex. Now in the British Museum. Originates from Ain Sakhri, Judea
Neben überarbeiteten und neu komponierten Stücken, die einen begleitenden oder atmosphärischen Charakter haben, setzt sich der Abend mit zwei weiteren musikalischen Werken aus der darstellenden Kunst auseinander. Zum einen durch die Befragung der Komposition eines Orgasmus, zu dem der Komponist Erwin Schulhoff 1919 eine schriftliche Partitur verfasste. Zum anderen durch die Weiterführung Vaslav Nijinskys Balletts „L’Après-midi d’un faune“ von 1912, in dem eine animalische Kreatur weibliche Naturgeister verfolgt. Nijinsky brach in seiner Arbeit nicht nur mit den damaligen Ballettkonventionen, sondern lud die Bewegungen mit erotischen Bedeutungen auf. Die Performer*innen von „Joy 2022“ verwandeln die Originalhandlung in farbenfrohe und ausgelassene Szenen, die das kindliche Spielen und das Fetischisieren von Gegenständen in den Vordergrund rücken.
Beide Vorlagen vereinen eine akademische sowie künstlerische Auseinandersetzung mit Sexualität des frühen 20. Jahrhunderts und waren gleichermaßen Pioniere der öffentlichen Thematisierung von Sex. Auf diese Debatte verweist auch der von einer hohen Wand aus Stahlblech abgegrenzte Raum, der auf die vom Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich aufgestellte Theorie der „Orgonenergie“ hindeutet. Reich entwickelte in den 1930er Jahren Räume aus Stahlblech, in denen Menschen sich ihrem Sexualtrieb ohne Hemmungen hingeben sollten. Durch das Verbot Sexualität frei auszuleben, diente dies einer Entladung zurückgehaltener Lust.
Was ist gemeint mit dem Erstarken konservativer und reaktionärer Haltungen zu Geschlecht und Körperlichkeit? Der (neu)rechte, amerikanische Kulturphilosoph Roger Devlin kann hier stellvertretend für eine Reihe von Autor*innen stehen, die vehement für ein Wiedererstarken der binären Geschlechterrollen und insbesondere des klassischen Familienbildes eintreten.
Nach der ersten sexuellen Revolution in den 1920er Jahren in Europa hat die politische Relevanz der thematischen Auseinandersetzung mit Sexualität auch mit der 1968er Bewegung an Gewichtung gewonnen. Trotz der Veränderungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten wird heute immer noch vielerorts strukturell gegen elementare Rechte von Frauen und LGBTQIA+–Menschen gestimmt und die Sichtbarkeit ihrer Individualität und sexuellen Selbstbestimmung deutlich eingeschränkt. Wie über Sex gesprochen wird, wird gesellschaftlich bestimmt. Und dies hängt mit der sozialen Klasse, dem Geschlecht sowie mit der Art und Weise zusammen, wie wir Regeln und Normen verstehen und ausleben. Insbesondere sexuelle Vorlieben und Praktiken stehen kulturell ebenso wie gesellschaftlich immer im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Identitäten, doch Identität ist nicht gleich sexuelle Orientierung und Sexualität ist nicht gleich Geschlecht.
Der andeutungsweise Versuch der Repräsentation von Sexualität und Begehren ist an diesem Abend ein Angebot der Vielseitigkeit. Er zeigt Intimität und Nähe nicht in ihrer Gänze, jedoch in ihren Möglichkeiten. „Joy 2022“ blickt über die bestehenden Normen hinaus, um körperliches Vergnügen, Wünsche sowie Fantasien in ihrer Mehrperspektivität zu feiern.
Francesca Horvath
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