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MK:

Digitales Programmheft „Gigantische Einsamkeit“

Gemeinsam einsam

„Noch nie habe ich von einem gehört, der auf dem Sterbebett gesagt hat, ich bin froh es alleine geschafft zu haben“

In dem Stück der Autorin Paula Kläy begegnen wir vier Menschen, die gemeinsam in einem Mehrfamilienhaus in einer nicht näher definierten mittelgroßen westdeutschen Stadt miteinander wohnen. Im Hinterhof ihres Wohnhauses entdecken sie den Hausrat eines soeben verstorbenen Nachbars. Mehrere Kisten, aufeinandergestapelt, hat seine Freundin Mascha dorthin gestellt. Nach und nach beginnen die vier, die sich darin befindenden Sachen auszupacken und anzusehen. Die Erinnerungen an den Verstorbenen vermischen sich dabei mit Gedanken zum Tod, Trauer und den Fragen danach, was das eigene Leben eigentlich bedeutet. Weil die Auseinandersetzung mit Tod, Trauer und Verlust nicht unbedingt eine ist, die einlädt zu einem humorvollen Abend, hat die Autorin Paula Kläy ihren Text mit einem Untertitel versehen: „Eine Groteske über die Verdrängung von Trauer und das Ringen mit dem Ausdruck von Mitgefühl“. Grotesk, weil man sich in der ehrlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Angst vor dem Tod vielleicht auch immer ein Stück lächerlich macht. Oder grotesk, weil die Figuren in dieser Auseinandersetzung offenbaren, wie schwer es eigentlich ist, sich wirklich der eigenen Trauer zu stellen. Das Verdrängen und Überspielen der eigentlichen Gefühle und Ängste kann von außen betrachtet dann und wann als sehr humorvoll gelesen werden.

Helfen soll der Nachbarschaft auch noch der kleine Roboterhund, der plötzlich inmitten der Kisten des Verstorbenen auftaucht. Er soll helfen bei der Bewältigung der erst einmal gar nicht vorhandenen Trauer, ist allerdings programmiert und zur Verfügung gestellt von der Firma Afterlife und steht somit für die Kapitalisierung von Trauer, die uns in der gegenwärtigen Gesellschaft immer wieder über den Weg läuft. Zwar ist er mit seinen Gedichten und Floskeln nicht wirklich hilfreich, doch gibt er in den vulnerabelsten Momenten Impulse, die die Figuren dazu bringen, sich mit sich selbst und den anderen auseinanderzusetzen. Gerahmt ist die Groteske um die Nachbarschaft durch Begegnungen in Form von Schlaglichtern mit einem Vater und seinem Kind. Die beiden tauchen immer wieder auf wie aus dem Nichts und scheinen in einem Paralleluniversum zu existieren, welches mit anderen Zeitlichkeiten hantiert.

Verlust reißt einem den Boden unter den Füßen weg. Von einem Moment auf den nächsten ist alles anders. Der Begriff „Trauer“ beschreibt nicht nur den emotionalen Zustand nach einem Verlust, sondern auch den Prozess der Transformation.

Der irische Schriftsteller C.S. Lewis schreibt über sein Erleben von Trauer: „No one ever told me that grief felt so like fear. I am not afraid, but the sensation is like being afraid. The same fluttering in the stomach, the same restlessness, the yawning. For in grief nothing “stays put”. One keeps emerging from a phase, but it always recurs. Round and round. Everything repeats. Am I going in circles, or dare I hope I am on a spiral? But if a spiral, am I going up or down it?“

Trauer ist zum einen hoch persönlich und zum anderen universell. Sie kann ganze Bewegungen auslösen und findet in der Veräußerung eine politische Kraft. Sie macht das Verlorene sichtbar und verleiht ihm neuen Ausdruck. Trauer verändert das eigene Verhältnis zur Welt, weil sie ohnmächtig macht und gleichzeitig unsere Verbindungen miteinander und der Welt ganz direkt offenbart. In der Trauer stellen wir uns einer veränderten Realität und am besten tun wir das nicht allein. Somit ist das Thema Trauer im Theater vielleicht ganz gut platziert. Theater lebt davon, dass wir dort nicht alleine sind. Wir teilen ganz einzigartige Momente und bilden dabei eine temporäre Gemeinschaft. Somit können wir uns vielleicht leichter diesen sehr beängstigenden Themen stellen, die uns ja doch alle angehen.

"I'm too sad to tell you" von Bas Jan Ader (1971)

Kulturwissenschaftlerin Inga Andersson begibt sich auf die Spur der Trauer durch das vergangene Jahrhundert.

Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste

Wenn ich ein Grundgefühl für die zurückliegende Zeit benennen müsste, dann das des Verlorenseins. Ich habe den Eindruck, in einer Welt zu leben, die mir bekannt vorkommt, die immer noch nach vielen der mir vertrauten Regeln funktioniert, aber dennoch durch eine andere, eine unheimliche Version ihrer selbst ersetzt wurde. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber reden möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu, nur um sich dann, traurig den Kopf schüttelnd, wieder von mir zu verabschieden.

– aus Daniel Schreiber: Die Zeit der Verluste. Hanser Berlin 2023, S. 9

Das Politikteil / Verlust

In einem dreiteiligen deep dive von Das Politikteil der ZEIT spricht Andreas Reckwitz exklusiv über seine Thesen: Warum produziert die Moderne unausweichlich selbst die Verluste, die sie bedrohen? Was bedeutet das eigentlich: Verlust? Und warum eskalieren diese Verluste gerade jetzt so sehr, dass die Idee des Fortschritts selbst infrage steht – und damit die Grundlage der westlichen Welt?

Illustration: Drei grüne Hühner mit roten Federröcken stehen nebeneinander.

Von Paula Kläy

Illustration von Zarah Leemann

Und wenn wir nicht trauern würden? Offene Ideen mit Vinciane Despret (arte)