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“Sie kam aus Mariupol” ist Natascha Wodins „Lebensbuch“, mit dem sie 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Der autofiktionale Roman wird ein unerwarteter Erfolg, wird in sechzehn Sprachen, u.a. ins Ukrainische und Chinesische übersetzt. Die dem Vergessen entrissene Geschichte der Mutter erzeugt mehr als sechs Jahrzehnte nach ihrem einsamen Tod in der Regnitz eine große Welle der Anteilnahme. Während die Mutter zu Lebzeiten stets nur wie Abfall behandelt wurde und völlig unsichtbar blieb, wird sie nun gehört und sogar vielleicht geliebt. „Ich hatte Dich gefunden, fast sechzig Jahre nach Deinem Tod habe ich Dich und Dein einstiges Leben gefunden, Dein Leben vor meiner Geburt im ukrainischen Mariupol am Asowschen Meer“, schreibt Natascha Wodin in einem fiktiven Brief an die Mutter. Wodin kam 1945 als Kind aus Mariupol verschleppter Zwangsarbeiter im bayerischen Fürth zur Welt. Die massenhafte, flächendeckende und systematische Zwangsarbeit sogenannter „Ostarbeiter“ ist ein bis heute wenig präsentes, dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, das bis weit in die Nachkriegszeit hinein reicht. Wer von den Nazis ins Reich verschleppt worden war, um in der Kriegsindustrie Hitlers verwertet zu werden, galt nach Kriegsende in der sowjetischen Heimat auf einmal als Verräter, war dort vom Tod bedroht. Das Mädchen Natascha wusste nicht, dass die Mutter zu einem Millionenheer von verschleppten Zwangsarbeitern gehörte, sie wusste als Kind nicht, was die Bezeichnung „Displaced Persons“ bedeutete. Sie fühlte nur die offene Feindseligkeit, als „slawischer Untermensch“ verantwortlich gemacht zu werden für den verlorenen Krieg der Deutschen.
1956 hat die Mutter durch ihren Selbstmord die Beziehung zu ihrer zehnjährigen Tochter gewaltsam abgebrochen. Sie ging ins Wasser der Regnitz, was sie zuvor bereits des Öfteren angekündigt hatte.
Durch verschiedene Schichten von Schmerz und Abwehr muss sich die Erzählerin einen Weg bahnen, um dieser Mutter wieder begegnen zu können. Die Person, die sie durch eine zufällige Recherche im russischen Internet entdeckt, ist völlig anders als das Bild der Mutter in ihrer spärlichen Erinnerung. Diese Mutter ist eben keine heruntergekommene Arbeiterin, sondern das Aschenputtel war in Wahrheit eine Prinzessin, die spätgeborene Tochter einer multikulturellen, aristokratischen Familie! Diese Familie ist zur Zeit ihrer Geburt bereits enteignet, und Nataschas Mutter war aus dem Paradies direkt in die Hölle gefallen, die kein Ende zu nehmen schien.
Wie kann Natascha, die Erzählerin und spätere Schriftstellerin, eine derartige Angst überwinden, die die Mutter in sie eingepflanzt haben muss, als sie noch Teil ihres Körpers war? Das „russische Barackenkind“ erkämpft seinen Platz in der fremden deutschen Heimat, findet ihn in der Sprache.
Leben heißt Überleben, heißt, das allgegenwärtige Schweigen zu durchbrechen. Ihre Familiengeschichte gibt den Schrecken des 20. Jahrhunderts ein Gesicht, wir erleben Geschichte von unten, eine lebendige, fragende, verzweifelte, anrührende Geschichtsschreibung. In den ganzen ideologischen Wahnsinn und in die bittere Ohnmacht mischt sich aber auch die Hoffnung, in der eigenen Geschichte Vorbilder für Widerstand oder sogar eine künstlerische Gegenkraft zu entdecken. Natascha findet Verbündete und Vorbilderin der eigenen Familie – und letztendlich sogar jemanden, den sie noch umarmen kann.
Viola Hasselberg
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