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Warum trägt Shakespeares letztes Drama den Titel „The Tempest“ („Der Sturm“)? Das Schlimmste, die Katastrophe hat sich doch schon nach der ersten Szene des ersten Akts ereignet, in der ein Schiff kentert? In diesem Zusammenhang wird gerne der Ausruf zitiert: „Die Höll‘ ist leer / Und alle Teufel hier!“ Schnell wird klar: In Shakespeares „Sturm“ sind alle Protagonist*innen Gestrandete und gleichzeitig sprachmächtige Analytiker ihrer desaströsen Lage, selbst wenn etwa der Ureinwohner Caliban von seinem Herrn Prospero „die Sprache nur gelernt“ hat, „damit ich fluchen kann“.
Aus heutiger Sicht nehmen sich Epochen, in denen „Der Sturm“ als duftiges Zaubermärchen gelesen und gespielt wurde, irritierend aus. „Der wahre Sturm ist drohend und roh, lyrisch und grotesk, er ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt“, schrieb, schon 1961, in den Zeiten des Kalten Kriegs, der polnische Kritiker und Dramaturg Jan Kott. Befohlen (und inszeniert) hat diesen Sturm der so oft zum schrulligen Magier verklärte Prospero selbst. Auf seiner Insel führt er ein nur notdürftig mit Vernunft und Fürsorge verbrämtes, zynisches Regiment über den als „Monster“ abgekanzelten Caliban und den zu Zerstörungszwecken missbrauchten Luftgeist Ariel. Für ein recht abge-schmacktes Generalversöhnungs- und Machtmanöver missbraucht Prospero alle(s) und jede(n), inklusive seiner Tochter Miranda, er überschreitet Grenzen und Befugnisse wie ein tyrannischer Kapitän. Der Sturm, den Prospero loslässt, steht, jeden Theaterabend wieder, in einer langen Tradition von Eroberungen, Überwältigungen und Aneignungsmanövern.
„Der wahre Sturm ist drohend und roh, lyrisch und grotesk, er ist eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt“
Jan-Christoph Gockel, Hausregisseur der Münchner Kammerspiele, stellt das Drama in größere, globale Kontexte. „Das Dämmern der Welt“ von Werner Herzog, dem „radikalen Träumer“ des Neuen Deutschen Kinos, ist der zweite Ausgangspunkt von Gockels Inszenierung. Der auf einer realen Begebenheit beruhende Stoff verhält sich insofern zum „Sturm“ wie eine Variation verwandter Motive, freilich aus einer anderen Zeit, einer anderen Sphäre: Auch hier übt sich ein in Kampf und Konflikt geeichter Inselbewohner mit Blick auf (kriegerische) Verwüstungen in Versuchen der Weltbetrachtung: Der japanische Soldat Hiroo Onoda war auf der Pazifikinsel Lubang stationiert, bekam dort von der Kapitulation Japans am Ende des 2. Weltkriegs nichts mit und kämpfte noch unglaubliche 29 Jahre seinen Krieg weiter, als wäre er gefangen in einer Zeitschleife.
Werner Herzog setzt diesem Mann, über den er ursprünglich einen Film machen wollte, ein literarisches Denkmal. Er fragt, ob die „falsche“ Sichtweise Onodas nicht die Realität trefflicher abbildet als die offizielle Historie, der zufolge auf den Weltkrieg ein großer Frieden folgte. „Die Wahrheit ist, dass der Krieg niemals aufgehört hat. Die Schauplätze haben sich nur verlagert.“ „Wir sind der Stoff, aus dem die Träume sind“, wird Pros-pero gerne zitiert. „Träumt der Krieg von sich selbst?“, fragt dagegen Werner Herzog. Sind wir vielleicht der Stoff, aus dem die Kriege sind? Und: Liest Hiroo Onoda in den langen Nächten im Dschungel den „Sturm“ oder ist umgekehrt Onoda ein Held in Prosperos vielbeschworenen Büchern?
„Nur wenn es Film wäre, würde ich das alles für wahr halten.”
In einem Brief an Werner Herzog schreibt Jan-Christoph Gockel: „Mit Ihrer Prosa zeichnen Sie nicht nur die Welt, in der Onoda kämpft, die Insel, den Dschungel, sondern auch seine Träume, sein Fieber, den Sturm in seinem Kopf. Ich dachte an Hamlet, der sich in einer Nussschale für einen König unendlichen Raumes halten könnte und ich dachte an Prospero, auch ein Soldat auf einer Insel. Wie wäre es, wenn wir diese Welt doppelt sehen könnten? Während wir Shakespeares letztem großen Zauber beiwohnen, Prosperos Fantasie von der finalen Revanche – am Bruder, an den politischen Gegnern, die sein Zauber-Sturm hat stranden lassen – sehen wir, auf den zweiten Blick, parallel montiert, den entbehrungsreichen Kampf eines Soldaten. Magie als Kampf ums nackte Überleben.“
In seinem Buch „Schiffbruch mit Zuschauer“ zitiert der deutsche Philosoph Hans Blumenberg ein Fragment Friedrich Nietzsches, „Vom Getümmel“, in dem es heißt: „Als Zarathustra einst durch einen Schiffbruch an Land gespien wurde und auf einer Welle ritt, wunderte er sich: ,Wo bleibt mein Schicksal? Ich weiß nicht, wohinaus ich soll. Ich verliere mich selber.‘ – Er wirft sich ins Getümmel. Dann, von Ekel überwältigt, sucht er etwas zum Trost – sich.“
„Seefahrt als Grenzverletzung“: Ein zutreffendes Bild für die menschliche Existenz, das wäre nach Blumenberg nicht nur der / die Schiffbrüchige, der sich an den letzten Planken (auch der Sprache) festhält, und es ist nicht nur der von heiligem Schrecken oder billiger Sensationslust erfasste Beobachter / Analytiker auf dem sicheren Festland, der Stürme und Katastrophen aus sicherer Distanz betrachtet und beschreibt. Nein, der Mensch und die Geschichte, wie er sie in Worte fasst bzw. „dramatisiert“, sind ineinander verschränkt in / aus beiden Perspektiven. „Der Sturm / Das Dämmern der Welt“ lässt denn auch in szenischen Überblendungen, als Parcours an die Ränder der Welt und zurück, Herzog und Shakespeare, Prospero und Onoda, zwei Weltentwürfe ineinanderfließen. Das geht nicht ab ohne reißende, irre Stromschnellen im Lauf einer Erzählung von Ausbeutung, Unterdrückung, Aufbegehren, Gewalt und Krieg. Was hieße hier Ein-dämmung, was Versöhnung, Friede?
Immanuel Kant war ein großer Beobachter von Stürmen, vielleicht aber auch nur ein Schiffbrü-chiger im Tosen der Vernunft. In seiner berühm-ten Abhandlung „Zum ewigen Frieden“, die ihre Entstehung nicht zuletzt einem historisch ver-bürgten Besuch in einem Gasthof gleichen Namens verdankt, meinte Kant: Der Naturzustand, das sei der Krieg. Man müsse den Frieden also gewissermaßen verordnen und befehlen. Ein Friede, der nur dazu diene, den nächsten Krieg vorzubereiten, sei nur die Ruhe vor dem nächsten Waffengang.
In diesem Sinne schließt dieser Abend denn auch an jüngere Arbeiten Jan-Christoph Gockels an den Kammerspielen an: An die wilden Assoziationsketten von Thomas Köcks „Eure Paläste sind leer“ etwa, wo in Trümmern von Theater, Film und Musik immer noch die alten Kriege der „Neuzeit“ ein Szenario mühsam kultivierter Gewalt prägen. Oder an „Wer immer hofft, stirbt singend“, eine Revue zum Thema Reparatur, in der Walter Benjamin zitiert wird: „Der Engel der Geschichte hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln ver-fangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Claus Philipp
„Wen denn, wenn nicht den Kaiser, ich sonst in Japan treffen wolle? Ohne zu denken, sagte ich: Onoda.“
„Ich fand mich gerade mitten im Schreiben am Ende dieses Buches. Ich blickte hoch, weil ich vor dem Fenster etwas aufblitzen sah, etwas, was auf mich zuschoss, kupfern und hellgrün glänzend. Es war aber keine verirrte Feindkugel, sondern ein Kolibri. Ich entschloss mich in diesem Moment, nicht weiterzuschreiben. Der letzte Satz bricht einfach dort ab, wo ich gerade angekommen war.“
– Werner Herzog in „Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen“
Haben Sie die Handlung von Shakespeare’s „Sturm“ noch genau auf dem Schirm? Falls nicht, bekommen Sie hier einen humorvollen Überblick!
Regisseur Jan-Christoph Gockel und Schauspieler und Puppenbauer Michael Pietsch arbeiten als „peaches&rooster“ an einem neuen politischen Theater an der Schnittstelle von Schauspiel und Puppenspiel. Mehr über ihre Arbeit finden Sie hier.
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