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MK:

Digital Program Booklet "Bevor ich es vergesse"

Bevor ich es vergesse

Wenn ein Elternteil stirbt, bleibt selten nur der Verlust. Es bleibt ein Erbe aus Aufgaben: nicht nur Trauerfeier und Beerdigung sind zu organisieren. Da ist der Haushalt, vollgestopft mit Dingen, die das Leben des Verstorbenen plötzlich auf eine gnadenlose Bestandsaufnahme reduzieren. Genau dort setzt Anne Pauly mit ihrem Debütroman „Bevor ich es vergesse“ an. Ein Vater stirbt im Krankenhaus, und sofort heißt es: Das Bett muss frei werden. „Weil der Tod verrückt ist“, sagt Pauly. Ihr Gegengift: eine Sprache, die stolpert, hüpft, abschweift, um dem Pathos zu entkommen. Lachen wird zur Überlebensstrategie. Sie erzählt von ihrem Vater – einem widersprüchlichen Mann, jähzornig und verletzlich. Sie verschweigt nichts: die Gewaltausbrüche, das Chaos, die Abgründe. Aber ebenso wenig unterschlägt sie seine Eigenwilligkeit, seine Sensibilität, seine schräg funkelnde Komik. Das Besondere an Paulys Schreiben ist die Leichtigkeit, mit der sie das Schwere trägt. Die Tochter kämpft gegen das Vergessen – und weiß zugleich, dass sie loslassen muss. So wird der Abschied vom Vater, mit all seinen absurden, peinlichen, schmerzhaften Momenten und ambivalenten Erinnerungen, zu einer Reise der Versöhnung: zu einer Liebeserklärung an den Toten – und an das Leben selbst.

In Frankreich stellt man Pauly gern neben Annie Ernaux, Camille Laurens oder Édouard Louis. Auch ihr Roman wirkt „autofiktional“ – die Erzählerin trägt den Namen der Autorin. Doch Pauly selbst hält wenig von solchen Schubladen. Bevor ich es vergesse, sagt sie, sei ein Roman, inspiriert von wahren Begebenheiten, aber durch die „Mühle der Erinnerung“ gegangen: neu komponiert, poetisch überformt. Entscheidend für sie war, endlich in der ersten Person zu schreiben – ein „Ich“, das sich nicht mehr versteckt. Zu ihrer Handschrift gehört auch ein Netz von Bezügen, das sie auslegt: Musikstücke wie Barry Ryans „Eloise“ oder Céline Dions „Parler à mon père“ spiegeln innere Zustände, schimmern als Soundtrack der Erinnerung. Am Ende zeigt der Roman, wie das Leben nach dem Verlust zunächst schrumpft – und dann behutsam zurückkehrt. Trauer, sagt Pauly, sei lang und mühsam. Doch die Rettung liege in den Geschichten. Schreiben wird für sie zur Zwiesprache mit den Toten, ein Mittel, den „zweiten Tod“ – das Vergessen – hinauszuzögern.

Wiebke Puls, seit über zwanzig Jahren im Ensemble der Münchner Kammerspiele, hat in Klassikern, Uraufführungen und Adaptionen von Romanen wie Filmen gespielt. Nun bringt sie Anne Paulys Text, den sie vor einem Jahr als Hörbuch eingelesen hat, auf die Bühne. Beim Lesen spürte sie, wo die Sprache eine innere Energie entfaltet, die sich figürlich und spielerisch weiterführen lässt. Daraus entwickelte sie eine Bühnenfassung. „Naiv dachte ich, man könne viereinhalb Stunden Lesezeit auf ein Drittel kürzen. Am Ende blieb noch weniger“, erzählt sie. „Ich wollte Anne Pauly schreiben: Ihr Buch ist wunderbar, und es tut mir leid, dass ich es so beschneiden musste.“

Ganze Stränge – groteske Nebenfiguren, kleine Gesellschaftspanoramen – fielen der Schere zum Opfer. „Es tat weh“, sagt Puls, „aber am Ende blieb, was wirklich trägt: die Tochter und ihr Vater.“

Dafür kamen neue Schichten hinzu. Eine akustische Spur, fast wie ein Hörspiel, macht Erinnerungen hörbar. Und die Hinterlassenschaften des Vaters, aufbewahrt in einem Schrank, erzählen von der Geschichte der Dinge.

„Sie haben gesagt, du musst klar Schiff machen, die schönen Sachen rauspicken, entscheiden, was du behalten willst, und den Rest loswerden. Und zwar hopp, hopp. Das wird dir garantiert helfen.“

Anne Pauly

Wiebke Puls versteht den Stoff weniger als Trauerarbeit, denn als Herkunftsforschung. „Die Geschichte unserer Eltern ist schließlich auch unsere Geschichte. Vielleicht gehört es zu den wichtigsten Aufgaben eines erwachsenen Menschen, mit dieser Geschichte Frieden zu schließen.“

Matthias Günther

Hier in die Einführung von Produktionsdramaturg Matthias Günther reinhören!

„Bevor ich es vergesse“

Lesen Sie einen Auszug aus dem Anfang des Romans von Anne Pauly.

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Armin Smailovic

Lesen Sie hier ein Interview mit der Schauspielerin und Regisseurin Wiebke Puls über Romanadaptionen, Trauerarbeit und Verantwortung.

Lesen Sie hier ein Interview mit der Autorin Anne Pauly anlässlich der Veröffentlichung ihres Debütromans „Bevor ich es vergesse“.

Chimamanda Ngozi Adichie, Daniel Schreiber und Christian Kortmann über den Abschied vom Vater.

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Armin Smailovic

„Bevor ich es vergesse“.

Lesen Sie einen Auszug aus dem Roman, wo es um das Ausmisten geht.