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Nein, es ist nicht 5 vor 1933

Da sind sich Friedrich Merz und die Jusos plötzlich einig: Sie warnen davor, dass sich die Vergangenheit wiederholt. Unsinn! Die Gegenwart ist anders. Anders gefährlich.

Ein Essay von Florian Illies, erschienen auf ZEIT ONLINE am 22. Januar 2025

Eigentlich beginnen wir gerade das Jahr 2025, doch man hat das Gefühl, als blase uns permanent der eisige Wind der Geschichte in den Nacken: Angesichts des Erstarkens der AfD und der Wiederwahl von Donald Trump wird quer durch alle politischen Lager vor einer möglichen Wiederkehr des dunkelsten Wendepunktes der deutschen Geschichte gewarnt. Die Jusos, die Jugendorganisation der SPD, plakatiert zur Bundestagswahl in einer Typografie der 1930er-Jahre “Rechts wählen ist so 1933”. Und Friedrich Merz, Kanzlerkandidat von CDU/CSU, hat am Wochenende verkündet: “Einmal 1933 reicht für Deutschland.” Merz sagte das, um ein weiteres Anwachsen der rechtsnationalen Kräfte bis zur überübernächsten (!) Bundestagswahl zu verhindern – die nämlich wird aller Voraussicht im zahlenmäßig brandgefährlichen Jahr 2033 stattfinden, also hundert Jahre nach Hitlers Machtergreifung. Aber geht das eigentlich – also die Gegenwart vor der Zukunft zu warnen, indem man die dunklen Geister der Vergangenheit heraufbeschwört?

Es ist 5 vor 1933 heißt, 92 Jahre nach 1933, das Buch von Philipp Ruch, dem Gründer des Zentrums für politische Schönheit, das sich als “Sturmgeschütz des Humanismus” versteht. Nach Ruchs Ansicht ist Deutschland momentan nicht besser vor einer Machtübernahme durch die AfD geschützt als 1933 vor der der NSDAP. Er schreibt: “Dieses Buch wirft einen Blick in die Zukunft. Es macht uns zu Sehenden. Es lädt dazu ein, jetzt schon zu ahnen. Jetzt schon zu wissen.” Wie auch bei Merz und den Jusos offenbart sich hier ein überraschend orthodoxer Glaube an die Geschichte und an deren “Wiederholungszwänge”, wie es Sigmund Freud genannt hätte.

Der Zweck ist klar: Die Menschen sollen aus ihrer fatalen Blindheit gegenüber dieser als zwangsläufig empfundenen Rückkehr des Unheils erlöst werden. Damit zeigt sich jenes “Wiederaufleben der Schicksalsidee in einer Welt, die auf den Fortschrittsglauben eingeschworen schien”, wie es Nicola Chiaromonte schon 1971 in seinem Buch über Das Paradox der Geschichte als Erster prognostiziert hatte.

Lässt aber wirklich “1933 grüßen”, wie es auch Harald Welzer vor Kurzem in der taz mit Blick auf Donald Trump geschrieben hat? Faktisch gesehen ist die rekonstruierbare Gemengelage im Winter 1932/33 in Deutschland jedenfalls nicht zu vergleichen mit der aktuellen politischen Situation. Die historische Ausgangslage war, wie Jens Bisky es gerade in seinem exzellenten Buch Die Entscheidung über die Jahre 1929 bis 1934 beschrieben hat, mehr als unübersichtlich – das ganze Land war noch beherrscht von den seelischen und finanziellen Kränkungen des verlorenen Ersten Weltkrieges. Und nach dem Schwarzen Freitag von 1929 stürzte die Weltwirtschaftskrise Deutschland in einen kaum mehr beherrschbaren Strudel aus Orientierungslosigkeit, Hungersnot, politischen Grabenkämpfen, Morden und Straßenschlachten – hinzukamen noch der Zufall und die Dummheit der Handelnden, wie Lothar Machtan in seiner Rezension des Buches in der ZEIT ergänzt hat. Wir hingegen können uns 2025 den Luxus leisten, einen Bundestagswahlkampf zu führen, in dem bislang vor allem über Krankenversicherungsabgaben auf Kapitalerträge debattiert wird und die Frage, ob die Migranten etwas mit dem Alltag der Menschen zu tun haben.

Es geht hier nicht darum, die aktuellen Gefahren durch Putins brutale territoriale Gier, den neuen Rechtsnationalismus und die irrlichternde Ratio von Donald Trump zu verharmlosen. Das Bewusstsein für die tektonischen Verschiebungen der Nazi-Zeit hilft zudem, wachsam zu sein, wenn die Gewaltenteilung beschädigt wird oder die Naivität oder der blinde parteiinterne Eigennutz die Oberhand gewinnen – siehe Österreich. Doch wir haben in Deutschland trotz all unserer parallelen Krisen des Januar 2025 noch nicht die brodelnde Problemlage vom Januar 1933, weder die Polarisierung noch die Zentrifugalkräfte haben die damalige Dimension erreicht. Die Gewerkschaft ver.di fordert gerade acht Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten in deutschen Kommunen, und während ich diese Zeilen schreibe, ist die häufigste Suchanfrage bei Google Deutschland die nach dem Veröffentlichungsdatum der neuen Playstation 6.

Die apokalyptische Zuspitzung einer Warnung vor 33 wird durch ihre Wiederholung nicht schärfer, sondern nutzt sich ab. Denn es ist nicht 5 vor 1933, sondern 92 Jahre danach. Keine Gesellschaft wird sich je in einen überwundenen historischen Zustand zurückbeamen. Und – das ist entscheidend – anders als damals haben wir in Deutschland die negative historische Blaupause immer vor Augen. Damals konnte angesichts des langsamen Aufstiegs der NSDAP niemand eine warnende Parallele zur Vergangenheit ziehen, weil es etwas vollkommen Neuartiges war, dessen epochale Gefahr nur die wachsten Geister früh ahnten. Ansonsten aber taumelten die Menschen verstört durch die frühen 1930er-Jahre in Deutschland – auf so erschreckende wie erhellende Weise beschrieben von Erich Kästner in seinem 1931 erschienenen Roman Fabian. In einer amoralisch gewordenen Welt sucht der Protagonist Fabian nach einer neuen Moral – aber findet sie nicht.

Die Welt ist aus den Fugen

“Die Welt ist aus den Fugen”, lautete Kästners damalige Zeitdiagnose, die er seinem Alter Ego Fabian in den Mund legte. Aber auch er wusste keine Hilfe gegen die Risiken und Nebenwirkungen – es gab keinen Beipackzettel für die Zukunft in dieser Republik ohne Gebrauchsanweisung. Und konnte es ja gar nicht geben: Denn auch 1931 oder 1932 war es nicht eindeutig, was für ein 1933 folgen würde. Es ist immer naiv (und sehr bequem), im Rückblick eine historische Zwangsläufigkeit zu behaupten. Wir müssen uns, so rät dementsprechend die Jenaer Historikerin Franka Maubach, wieder “der fundamentalen Ungewissheit der historischen Situation aussetzen”. Das erfordere Mut – denn eine “solche Geschichtsaufklärung müsste sich trauen, das Ungewisse zu denken und die Risiken einer offenen Zukunft begreifbar zu machen.”

Und was für 1933 gilt, gilt eben auch für das Jahr 2025. Als Dominik Graf vor Kurzem den Fabian zu einem Kinofilm für unsere Gegenwart machte, erklärte er: “Die Welt bewegt sich heute wieder in denselben Koordinaten, Längen- und Breitengraden der Mentalitäten der Zwanziger-, Dreißigerjahre.” Volker Kutscher, der Autor der Romanvorlage der Serie Babylon Berlin, hat in einem Essay für den Spiegel aber genau davor gewarnt: dass man aus Angstlust und mit einem falschen Fatalismus die historischen Parallelen heraufbeschwört, ohne zu realisieren, wie wenig die Zeiten vergleichbar sind.