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Balau (deutsche Fassung)

Fiston Mwanza Mujila hat im Vorfeld der Proben einen poetischen Text geschrieben, der auf dem künstlerischen Austausch mit Serge Aimé Coulibaly und dem künstlerischen Team der Produktion beruht. Der Text wiederum inspirierte die Probenarbeit und die weitere künstlerische Entwicklung des Stückes. Er war nicht im strengen Sinn Vorlage für eine Inszenierung, sondern gemeinsames Material. Als Langgedicht ist er ein eigenständiger Text. Er schlägt eine eigene Erzählung vor, die von der Erzählung des Tanztheaterabends abweicht, sich aber doch aus dem gleichen künstlerischen Reservoir speist. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von der Literaturübersetzerin Lena Müller, die regelmäßig Texte von Mujila übersetzt.

Tableau 1

Neue Stadt
Sie kommen auf die Bühne, einer nach dem anderen
Und jeder will etwas sagen
Um sich aus der Einsamkeit zu stürzen?
Leiden sie schon unter Melancholie?

*** Die Sonne wird keine Darmentleerung mehr sein

* Ich bestehe auf mein Recht zu kotzen

** Ich hab meine Träume in den Kühlschrank gelegt
Morgen während der Sonnenfinsternis
hole ich sie wieder raus

*** In meinem Bauch brennt ein Feuer

**** Ich suche meine siamesische Zwillingsschwester
Sie nennt sich Regen

*** Ich wurde zwei Mal geboren
In der Wüste und im Amazonaswald

**** Beim Aufwachen
hatte ich die Sonne im Mund
Das war das Zeichen
Auf das ich tausend Jahre lang
gewartet hatte

***** Die Sonne, der Ausverkauf von Unheil
Die Sonne, das Ende der Schlaflosigkeit
Die Sonne als Fegefeuer!
Die Sonne, unsere letzte Rettung

* Unsere Utopien sind zersplittert
Lasst uns raueren Träumen nachjagen

** Nacht ist der andere Name für Wohlstand
für Exzess und Überfluss

** Ich geh und fresse aus dem Trog

** Ich verscherbel mein Geschlecht
Ich verscherbel meinen Mund
Ich verscherbel meinen Schädel
Ich verscherbel meinen Bauch
Ich verscherbel meine Wirbelsäule
Und dem Schnellsten schenk ich meine Schamhaare

*** Ich habe keinen Körper
Ich habe nur meine Seele zum Tausch!

**** Der Bus ist ohne uns abgehauen
Jetzt müssen wir den Tag abwarten

*** Und wenn die Nacht hundert Jahre dauert?
Was, wenn die anderen nicht kommen?

**** Ist doch egal
Kein Grund sich umzubringen

***** Es wäre dumm, auch nur eine Träne zu vergießen

***** Von nun an lassen wir die Finger von diesen
schmutzigen Tellern, die stinken wie die Pest

**** Von diesem Gebräu trinken wir keinen Tropfen mehr

** Weg damit!

*** Der Sumpf hat seine Zeit gehabt
Lasst den Fluss fließen!

*** Schluss mit Rowdytum, Schmuggel und
Betrug der letzten Stunde

***** (Wenn die andren nicht auftauchen)
Freiheit und Fortpflanzung!
Hier lassen wir uns endgültig nieder
Wir gründen eine neue Stadt
Wir nennen sie die Stadt der Hoffnung!
Wir nennen sie die Stadt der Liebe
Wir nennen sie die Stadt des Überschwangs
Wir nennen sie die Stadt des Exzesses und der letzten Chance
Wir nennen sie die Stadt der Maßlosigkeit
die Stadt des Schattens und des Lichts
die Stadt des Glücks
die Stadt der nackten Götter
die Stadt der Abstinenz

Diese wunderbare,
überflüssige Stadt
wird randvoll sein
mit Sonne

*** Die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt,
die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die
Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die
Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die
Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die
Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt, die Stadt…

* Es werden sich Frauen, Männer und Kinder aus ganz Europa
einfinden. Sie werden nicht mit leeren Händen kommen. Sie
werden anrücken mit ihren Riten, ihren Sprachen, ihren
Bräuchen, ihren Religionen und ihren Ahnengeschichten
die sie von Familie zu Familie weitergeben
bis zur Verwesung der Welt

** Triumphierend werden sie in die auserkorene Stadt einziehen
diese von Licht bevölkerte Stadt, diese mit unsren eigenen Händen
erbaute Stadt

*** Sie werden mit Obst und Gemüse anrücken. Mit
Rotwein, Reiswein und Bier. Mit
Gewürzen und Düften.

**** In dieser wunderbaren Stadt – grausam in ihrer
Angst vor der Suche nach Hoffnung – gibt es kein Sterben,
keine Einsamkeit und auf keinen Fall Krankheiten –
kein Malaria, keine Ruhr, keine Gonorrhoe! In
dieser fabelhaften Stadt werden jeden Tag und jede Nacht
(ohne Mond) Bälger geboren werden
und sie werden das ganze Universum mit ihrem
Gekrächze und Gequake überfluten, beflügelt von
der Illusion einer mythischen, aber bedauerlich
plötzlichen Existenz.

Tableau 2

(Festivitäten)
Die Leute putzen den Raum. Sie räumen alles weg,
was im Weg ist: Stühle, Tische, Stühle. Sie
wollen Platz schaffen für ihre Körper ohne
Treibstoff. Sie sind aufgedreht, angeschlagen (von der Freude und dem
Wohlstand?), aber wahrscheinlich bereit, sich in der
vorübergehenden, aber heftigen Ekstase miteinander zu messen

* Lasst uns feiern!
Bauscht eure Flügelhemden
Tanzt Salsa
Tanzt Rumba
Tanzt Polka
Tanzt Kizomba
Tanzt Condomblé
bis die Speiseröhre bricht

** Die Geburt von Vierlingen ist ein
ungewöhnliches und rätselhaftes Ereignis
Sie geht dem Jahrhundert
der nachtschwärmerischen Sonnen voraus
Ein Bier für die Urgroßmutter!

*** Lasst uns trinken, bechern, unseren Durst löschen!

*** Schüttelt euren Körper oder was davon übrig ist

*** Setzt euren Körper der Sonne und der Sorglosigkeit aus

*** Öffnet euren Körper für die Überfülle an Begierde

**** Hat jemand meinen Körper gesehen? Ich hab ihn im Garten
vergessen!

*** Der Körper ist ein stillgelegtes Königreich

**** Das Entzücken ist ein hinkender Traum
Aber es braucht Träume und Begeisterung
Um das unstete Antlitz (unserer Begierden) zu wahren

**** Balau oder der Himmel in der scharlachroten Nacht

**** Stürzen wir uns aus dem Rausch
Zu Ehren der Braut!
Zu Ehren der Ahnen
Zu Ehren all jener
die an dieser schönen kaputten Welt bauen!

* Zwischen dem Tanz und dem Tanz liegt der Tanz
Zwischen dem Tanz und dem Tanz liegt der Tanz
Zwischen dem Tanz und dem Tanz liegt der Tanz
Zwischen dem Tanz und dem Tanz liegt der Tanz
Zwischen dem Tanz und dem Tanz liegt der Tan
Zwischen dem Tanz und dem Tanz liegt der Tanz

* Hier ist die Sonne ein Moment neurotischer Fülle

*** Eine sich wölbende Demenz

*** Applaus für das Brautpaar!
Zuerst die Braut und dann der Rest des Königreichs
Drei Pferde für die Braut!
Eine Plantage für die Braut!
Eine Reise nach Alaska für die Braut!
Ein Aufenthalt in Ägypten für die Braut!
Ein Elefant für den Bräutigam
Eine goldene Uhr für die Braut!
Halbschuhe für den Vater der Braut
Hüfttücher für die Familie der Braut
Ein Sack Salz für die Familie der Braut!
Schmuck für die Braut!

Tableau 3

(Der Prozess. Sie streiten sich um einen Platz auf dem Podium. Jedes Mal, wenn es einer nach oben schafft, stoßen die anderen ihn hinunter oder versuchen, an seiner Stelle, in seinem Namen zu sprechen. Ein unfassbares Stimmengewirr)

* Ich habe nichts zu verzollen
Ich bin bereits ein Skelett

* Ich bin am Trauern
Die Sonne ist mir in der Hand erloschen

*** Ich möchte Anzeige erstatten gegen das Feuer
und die Schlafkrankheit

*** Ich möchte mein Maul halten
In meinem Bauch brennt ein Feuer

**** Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt
Wird der Prozess stattfinden?

***** Mein Bauch ist ein Pergament

* Ich bezeuge
Ich hatte einen Traum ohne Kopf und Wirbelsäule

*** Ich kehre aus dem Reich der Toten zurück

** Ich möchte bezeugen
Ich erwarte einen frühzeitigen Sonnenaufgang

** Die Sonne ist eine Darmentleerung

* Die Sonne reaktiviert die Erinnerung
Ich schwöre, mit der Wahrheit rauszurücken!

*** Ich möchte bezeugen
Ich erwarte die Erscheinung

**** Ich möchte bezeugen
Ich habe rotes Blut an den Händen

*** Ich möchte bezeugen
Ich habe mit dem Himmel geschlafen

*** Ich möchte bezeugen
Mein Körper ist ein Reservoir aufgeschlitzter Träume

**** Ich möchte bezeugen
Ich bin ein Wassertier

**** Ich möchte bezeugen
Ich exportiere den Schlaf
und die Schlafkrankheit

*** Ich habe nichts zu bezeugen
Außer dem Geburtsdatum
unseres Vorfahren

* Ich habe überhaupt nichts zu bezeugen
Ich komme aus einem Land, das nur auf dem Papier existiert

* Ich existierte vor der Geburt meiner Mutter

*** Balau: Ich wurde vor meiner Ahnin geboren

* Ich möchte bezeugen
Ich habe entschieden, glücklich zu sein

* Ich möchte bezeugen
Ich habe meine Tiere verschleudert

* Ich möchte bezeugen
Ich bin älter als meine Urgroßmutter

** Ich möchte bezeugen
Die Sonne, öffentlicher Pipifax mit unklarem Ausgang
Ich möchte bezeugen
Sonne, vereinsamter Feuerball

** Ich möchte bezeugen
Ich bin der einzige Überlebende
von Zauberei und Prekarität

*** Ich möchte bezeugen
Jetzt steht Aussage gegen Aussage

**** Ich bezeuge:
In meinem Mund geht morgen die Sonne auf

** Ich bezeuge:
Die Sonne segelt mit dem Wind
Balau

*** Ich bezeuge:
Morgen trinke ich den Ozean
Balau

**** Ich bezeuge
Reptilien werden vom Himmel fallen
Balau

*** Ich wurde von der Sonne verbrannt
Ich halte mich noch lässig auf den Beinen

*** Ich habe nichts zu bezeugen
Mein Körper ist meine Geburtsurkunde

*** Ich bezeuge

** Ich bezeuge:
Mein Körper ist ein Territorium
Ein Land vollgestopft mit Sonne und Boas

*** Ich bezeuge:
Ich versorge kleine Tiere
Die Spitzmaus und die Eidechse

*** Ich bezeuge ein für alle Mal
Mein Vater war ein ausgezeichneter Schieber

** Ich bezeuge (mit offenem Mund)
Mein Großvater verhökerte Waffen

Ich bezeuge
Ich warte auf das Ende der Welt

*** Ich bezeuge ohne Aussicht auf Erlösung
Ich bin im Schmuggel aktiv

** Ich bezeuge, solange es noch nicht zu spät ist
Ich schufte nachts
Ich maloche
mit großen zylindrischen Maschinen

* Ich bezeuge:
Die Braut isst im Schlaf
Ich bezeuge:
Die Braut lächelt wie ein Regenschauer
Ich bezeuge:
Die Braut hat einen Fluss
anstelle eines Bauchs
Ich bezeuge:
Die Braut hat kein Alter
Ich bezeuge:
Die Braut ist augenscheinlich aus der Steinzeit
Ich bezeuge:
Die Braut und ihre Füße aus Gold
Ich bezeuge:
Die Braut trinkt kein Wasser
Ich bezeuge:
Die Braut macht die ganze Nacht kein Auge zu
Ich bezeuge:
Die Braut ist tot
Ich bezeuge:
Es lebe die Braut

Tableau 4

* Wir sind nicht mit leeren Händen gekommen

** Wir gaben euch Gold und Silber
Wir gaben euch Stoffe, Elfenbein und
exotische Tiere,
Wir gaben euch Sklaven, Palmöl und Gummi

*** Wir gaben euch Kupfer und Uran
Wir gaben euch Eisen und Zinn
Wir gaben euch Reserven an Kohle, Erdöl und Diamanten

**** Wir gaben euch Kakao-, Kaffee- und
Erdnussplantagen
Und nicht zu vergessen Eisen und Zink

***** Wir gaben euch Zinnoxid, Tantal,
Magnesium
Wir gaben euch Koltan, Malachit,
Kobaldminen
Wir gaben euch Statuen, Perücken
und Masken
Wir gaben euch Urwälder

*** Wir gaben euch alle möglichen Schlangen
und Krokodilszähne, Baumwolle und seltene
Pflanzen

*** Wir gaben euch Gebirge, Vulkane und
Wälder
Wir gaben euch ganze Städte
Wir gaben euch unsere Mädchen und Jungen
aber ihr seid immer noch nicht satt

** Das Uran und das Bauxit waren von minderer Qualität
Die Flüsse stanken nach Treibstoff
Unsere Mädchen und Jungen schufteten nicht genug
(sie faulenzten, tranken die ganze Zeit Alkohol und
aßen sogar nachts)
Eure Statuen waren vergammelt

Tableau 5

(Körper)
Körper im Zustand fortgeschrittener Verwesung
Körper im Zustand der Fäulnis
Abgelaufene Körper
Unterentwickelte Körper
Verplombte Körper
Stromlose Körper
Ausverkaufte Körper
Zusammengeflickte Körper
Blutende Körper
Geplünderte Körper
Im Keim erstickte Körper
Kolonisierte Körper
Entwurzelte Körper
Verpflanzte Körper
Ins Exil getriebene Körper
Beschnittene Körper
Entvölkerte Körper
Verbannte Körper
Überwachte und anschließend kastrierte Körper
Gekreuzigte Körper
Verbrannte Körper
Enteignete Körper
In Schwefelsäure getränkte Körper
Verelendete Körper
Amputierte Körper
Lebendig begrabene Körper
Bombardierte Körper
Blutige Körper
Vom Regen verbrannte Körper
Amputierte Körper
Beschwipste Körper
Von Ratten zerfressene Körper
Zerfetzte Körper
Geschändete Körper
Verschwendete Körper
Verdinglichte Körper

Tableau 6

* Ich möchte bezeugen:
Unser Horizont ist seit Jahren verriegelt
Dazu kommt die Schlafkrankheit
Die Amnesie, die Epilepsie und der Schwindel
Jeden Sonntag

** Ich möchte bezeugen
Und dann sind da noch diese Körper am Himmel

*** Die Gräser werden zu Kreaturen; die Gräser
wachsen in rasender Geschwindigkeit, sie wachsen in
den Parks und Gärten; sie wachsen vor den
Wohnhäusern, sie kreisen die Wohnhäuser ein und
breiten sich aus Richtung Fluss, sie wachsen auf den
Friedhöfen, sie wachsen auf den Autobahnen, sie
wachsen in den Flüssen, sie wachsen in den
Schluchten, sie wachsen auf den Mauern, sie wachsen in
den Kirchen und Bars, sie wachsen im Mund
dieses schlafwandelnden Volkes

*** Jede Handlung ist eine Sprache
Essen ist eine Sprache
Saufen ist eine Sprache
Die Zähne stillhalten ist eine Sprache
Das alles sind Sprachen
Die Sprachen der Wahrheit
(die Wahrheit ist ein Schlafsaal ohne Fenster)

** Ich möchte bezeugen
Wir warteten auf die Sonne
Die Sonne ist gekommen
Sie hat uns verbrannt, verkohlt
Am Kopf, an den Füßen und am Bauch

* Ich möchte bezeugen:
die Sintflut
was ist das?
ein Wassertier

Tableau 7

** Wir haben die Sprache gelernt
- paradoxerweise indem wir
dem Gesang der Meerjungfrauen lauschten
Zuerst waren die Worte unverständlich
Dann das Wunder!
Balau für die Urgroßmutter
Balau für die Zwillinge
(Sie lösen den Fluch
und sagen zahlreiche Nachkommen voraus)
Balau für alle Flüsse, die sich in den Ozean stürzen
Balau für die Mutter
Balau für die Erde
Balau für die Aasfresser
Balau für die Nachtgestalten
Balau für die Toten und die Lebenden
Balau für die Kinder, die der Sonne hinterherrennen
Balau für den Ausverkauf des Pechs
Balau für die Körper ohne Treibstoff
Balau für die Königinmutter
Balau für die Herdenwanderung
Balau für die vergessenen Gebiete
Balau für die Verliebten
Balau für die Klagefrauen
Balau für die Diamantenjäger