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Die Schriftstellerin Natascha Wodin schreibt im Brief an ihre Mutter über das Schauspiel des Lebens und wie sie einander gleichzeitig Mutter und Tochter wurden.
Von Natascha Wodin
Der Artikel ist zuerst im SZ-Magazin Heft 10/2019 erschienen.
… es fängt damit an, dass ich nicht weiß, wie ich Dich ansprechen soll. Als Kind nannte ich Dich „Mama“, manchmal wahrscheinlich auch „Mamotschka“ oder „Mamulja“, aber da Du vor über sechzig Jahren gestorben bist und ich inzwischen eine alte Frau geworden bin, kommt mir das Wort „Mama“ nicht mehr über die Lippen.
Das Wort ist in meiner Kindheit geblieben, ich kenne Dich nur mit meinen Kinderaugen und mache mir kaum Vorstellungen davon, wie unsere Beziehung sich im Lauf der Jahrzehnte entwickelt hätte, wenn Du sie nicht gewaltsam abgebrochen hättest, als ich zehn Jahre alt war. Ich habe Dich nie altern gesehen, diesen hässlichen physiologischen Vorgängen bist Du zuvorgekommen. Du bist nicht den Weg allen Fleisches gegangen, sondern hast diesen Weg drastisch abgekürzt, indem Du Dich mit sechsunddreißig Jahren umgebracht hast.
In meiner Erinnerung bist Du für immer jung, eine schöne, romantisch verklärte Mater dolorosa, obwohl Du ja genau die nicht warst. Du warst nicht die Mutter, die den Schmerz um ihr Kind verkörpert, sondern ihr Gegenteil. Nie werde ich Deine innere Not ermessen können, die Not einer Frau, die ins Wasser geht und ihre zwei kleinen Kinder allein zurücklässt. Du hast gewusst, dass wir außer Dir keinen Schutz besaßen, dass es keine Verwandten gab, die sich um uns hätten kümmern können, keinen Vater, der für uns da war. Du hast gewusst, dass wir allein in einer Welt zurückblieben, die uns nicht haben wollte, Du hast gewusst, dass wir ohne Dich aufgeschmissen waren. Und trotzdem bist Du gegangen.
Manchmal spiele ich ein Spiel mit Dir. Ich stelle mir vor, dass Du mir, quasi vom Himmel aus, zusiehst, während ich Dir mein jetziges Leben vorführe. Nein, eigentlich siehst Du mir aus unserer irdischen Vergangenheit zu, aus einem der deutschen Nachkriegslager für Displaced Persons, in denen wir gewohnt haben. Ich wusste damals gar nicht, dass man uns so nannte, Displaced Persons, ich wusste nicht einmal, dass Du bis vor Kurzem zu einem Millionenheer verschleppter Arbeitssklaven in Hitlers Imperium gehört hattest.
Nie hast Du mich losgelassen, die Ertrinkende, die ich retten wollte und die versuchte, mich mit sich zu reißen
Ich kannte Dich nur in der Zeit danach, eine immer traurige, armselige, halb zerlumpte Gestalt, der immer noch der Hunger in den Augen stand. Denn nichts war ja vorbei nach dem Arbeitslager, nur dass Deine Arbeitskraft jetzt nicht mehr gebraucht wurde. Du warst Teil der überflüssig gewordenen Menschenbeute aus dem Osten, ein slawischer Untermensch, eine Bolschewistin, der Weltfeind.
In meinem Spiel zeige ich Dir und ein wenig auch mir selbst, dem einstigen russischen Barackenkind, meine behaglich eingerichtete, von mir allein bewohnte Dreizimmerwohnung in einer der besten Gegenden von Berlin, ich zeige Dir meine Parkettböden, meine Bücherwände und Flügeltüren. Ich führe Dir meine Haushaltsmaschinen vor, die mein Geschirr spülen, meine Wäsche waschen, die Lebensmittel kühlen. Du kommst aus dem Staunen nicht heraus. Du hast die Wäsche noch auf einem Waschbrett geschrubbt, das heiße Wasser zum Geschirrspülen aus dem Wasserschiff des Kohleofens geholt, die Lebensmittel haben wir im Sommer im Keller aufbewahrt. Ich zeige Dir meinen Fernseher, mein Handy, meinen Computer, und Du verstehst gar nicht, was Du siehst.
Du schaust mir dabei zu, wie ich am Steuer meines Autos sitze, und die Stimme eines unsichtbaren Lotsen, der mein Ziel genau kennt, gibt mir Fahranweisungen. Und in all Deinem Staunen spürst Du, dass in mir selbst jetzt noch, da ich inzwischen alt und grau geworden bin, der Stolz einer Ausgestoßenen ist, die es geschafft hat, sich einen Platz in der Welt zu erobern, in der deutschen Gesellschaft, für die wir einst Unrat waren, slawischer Abschaum, den der Krieg angeschwemmt hatte. Insofern wird Dich am meisten verwundern, dass ich, das einstige Russenkind, für das Du damals einen Platz an der deutschen Schule erbetteln musstest, eine anerkannte Schriftstellerin deutscher Sprache geworden bin.
Das Schreiben hat mich das Schweigen der Welt gelehrt, in der ich aufgewachsen bin. Alle haben damals geschwiegen, Du und Dein Mann, mein Vater, die ehemaligen Zwangsarbeiter, die deutschen Lehrer und die deutschen Kinder, die nichts von der Vergangenheit ihrer Eltern wussten, im Schweigen waren sich alle einig. Gegen dieses Schweigen, in dem ich eingemauert war, habe ich die längste Zeit meines Lebens am Schreibtisch gekämpft, gegen das Schweigen und gegen die Angst, die Du schon in mich eingepflanzt haben musst, als ich noch Teil Deines Körpers war.
Ich habe mein Leben mit Deiner Angst gelebt, schon als Kind habe ich Dich, ohne es zu wissen, auf meinen Schultern getragen, um Dich nicht zu verlieren, ich habe gebettelt und gefleht, Dich mit meiner ganzen Kraft festgehalten, aber alles hat mir nichts genutzt, Du bist trotzdem gegangen. Auch davon musste ich immer wieder erzählen, in immer neuen Varianten und Spielarten, nie gelangte ich mit meinem Sprechen über Dich an ein Ende, nie hast Du mich losgelassen, die Ertrinkende, die ich retten wollte und die versuchte, mich mit sich zu reißen, auf den Grund.
An einem schmutzgrauen Tag im März, das wollte ich Dir vor allem erzählen, fuhr ich zur Buchmesse nach Leipzig, wo mein neues Buch vorgestellt wurde. Es handelte von Dir und Deiner Geschichte, denn, Du wirst es mir nicht glauben – ich glaube es selbst kaum –, ich hatte dich gefunden, fast sechzig Jahre nach Deinem Tod habe ich Dich und Dein einstiges Leben gefunden, Dein Leben vor meiner Geburt im ukrainischen Mariupol am Asowschen Meer.
Ich weiß jetzt, wer Du warst, die Wundermaschine namens Computer wusste, wie sich herausstellte, fast alles über Dich. Du warst nicht die einfache Frau aus dem armseligen ukrainischen Volk, für die ich Dich gehalten hatte, Du, das Arbeitstier der deutschen Nazis, stammtest aus einer multikulturellen Familie von ukrainischen und baltendeutschen Aristokraten, von Gelehrten, Künstlern und wohlhabenden italienischen Kaufleuten. Ich weiß nicht, warum Du mir das nie gesagt hast.
Sicher, ich war ein Kind und stellte keine Fragen, aber ich glaube, dass der eigentliche Grund ein anderer war. Das zu sein, was Du warst, war seit der Russischen Oktoberrevolution ein Verbrechen, eine angeborene Schuld, auf die oft genug die Todesstrafe stand. Die Angst vor dieser Strafe war für immer in Dich eingebrannt, sie hat Dich auch auf der anderen Seite der Welt nie verlassen, obwohl Deine Herkunft Dir hier zum Vorteil hätte gereichen können.
Der Computer erzählte mir das Märchen vom Aschenputtel, das in Wirklichkeit eine Prinzessin war. Er erzählte mir von Deiner Fallhöhe, von der ich nie etwas geahnt hatte. Ich hatte das Bäumchen auf Deinem Grab geschüttelt, und Du selbst warst mir vor die Füße gefallen, meine schöne, rätselhafte, unrettbare Mutter, und sechs Jahrzehnte nach Deinem Tod konnte ich Dich doch noch bergen aus der Anonymität der Millionen, die Dein Schicksal als Verfolgte der Sowjetmacht und als Sklavin der deutschen Herrenmenschen teilten.
In meinem Leben als Schriftstellerin war mir immer nur ein Außenseitererfolg beschieden gewesen, mehr schlecht als recht lebte ich von der Hand in den Mund, nun hatte man mich mit meinem Buch über Dich für einen der angesehensten deutschen Literaturpreise nominiert. In dem Hotelzimmer in Leipzig, das mein Verlag mir bezahlte, schlief ich schlecht, die ganze Nacht quälte mich ein aufsässiger Husten, verbunden mit pochenden Kopfschmerzen und der Gewissheit, dass ich auf einer falschen Hochzeit tanzte, dass mir am nächsten Tag statt einer Ehrung irgendeine namenlose Blamage bevorstand.
Auf dem Weg durch die Menschenmasse, die sich am frühen Nachmittag in der riesigen Glashalle versammelt hatte, fieberte ich und war ich betäubt von Codein und Schmerztabletten. Erst hinterher erfuhr ich, dass ich eine Lungenentzündung hatte, und mir schien, es sei noch einmal genau jene, die mich einst kurz nach meiner Geburt in der Lagerbaracke überfallen hatte. Als sei ich an diesem Tag in Leipzig an meine Anfänge zurückgekehrt, wo ja tatsächlich meine Anfänge lagen. In dieser Stadt warst Du ein paar Monate vor Kriegsende in einem Arbeitslager schwanger mit mir geworden.
Vor der Preisverleihung in der Messehalle wurden die üblichen Reden gehalten, die Zeit zog sich qualvoll in die Länge. Endlich wurde der Name des Preisträgers verkündet. Es war meiner. Du sahst mich von meinem Platz aufstehen und nach vorn auf die Tribüne gehen, unter Dein Porträt, das auf den Einband des Buches aufgedruckt war und jetzt lebensgroß unter der gläsernen Kuppel schwebte. Du wurdest in genau der Stadt geehrt, in der Du vor siebzig Jahren für die deutsche Rüstungsindustrie geschuftet hast, eine ausgezehrte, halb verhungerte junge Ukrainerin, die nachts auf einer verwanzten Lagerpritsche schlief, nur ein paar Kilometer von dem Ort entfernt, an dem man Dich jetzt feierte.
Das Buch wurde ein unerwarteter Erfolg. Der Verlag kam nicht nach mit dem Drucken neuer Auflagen, es stand in allen Buchläden, die Fotos von Dir und Teilen Deiner Familie schauten mich von den Seiten der großen und kleinen deutschen Zeitungen an. Man zeigte Dich im Fernsehen, in Dutzenden von Interviews erzählte ich von Dir, ich fuhr kreuz und quer durch Deutschland und las aus dem Buch über Dich. Man wird Deine Geschichte in französischer, spanischer, italienischer, arabischer, vietnamesischer und sogar chinesischer Sprache lesen. Ein deutscher Maler verliebte sich in Dich und schickte mir seine zarten, innigen Porträts von Dir. Du, nach der man einst auf deutschen Straßen mit Steinen warf, wurdest überhäuft mit Anteilnahme und Liebe.
Du, Mama, standst für die Millionen anderen, die man entrechtet, ausgebeutet und weggeworfen hatte, Du warst zu ihrer Vertreterin geworden. Und mich hast Du reich beschenkt. Nichts kann mir das zurückgeben, was Du mir einst entzogen hast, aber Deine Geschichte, die Du mir offenbart hast und die ich in Sprache verwandeln durfte, hat den Mangel meiner Kindheit in Reichtum und Fülle verwandelt. Ich fühle mich entschädigt von Dir, am Ende haben wir, Du und ich, uns gegenseitig geborgen, wir sind einander Kind und Mutter zugleich geworden. Du, meine kleine, chancenlose, an der Welt zerschellte Mama.
Deine Natascha
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