Theaterkasse
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Digitales Programmheft zu NIGHTCORE
Ich erinnere mich an eine Geschichte von Michael Ende, die ich vor zwei oder drei Jahrzehnten mal gelesen habe. Sie hieß, vielleicht, „Ich bin Hor“. Darin schleicht ein Minotaurus, Hor, durch sein riesiges Labyrinth. Er versucht, möglichst kein Geräusch zu machen und vor allem: nichts zu sagen – denn jeder Laut, der entsteht, wird bis in alle Ewigkeit zurückgeworfen und wiederholt, vom nach außen perfekt abgeschlossenen Tunnelsystem. So rennt er permanent in alte Sätze von sich, die er einst, unbedacht, geäußert, geflüstert, oder, in seiner Einsamkeit, gebrüllt hat. Er hört die Sätze manchmal genau so, wie er sie gesagt hat. Dann freut er sich. Aber er hört auch zahlreiche Abwandlungen, Spiegelungen, Brechungen, Verstärkungen, Invertierungen, die durch das endlose Reflektieren entstanden sind. Dies erschreckt ihn so sehr, dass er verstummt.
Joan Summers versucht auf Jezebel eine Antwort: Die Musikrichtung, mit denen sie ihre Ausraster unter Kontrolle hält und die klingt, als würde Dein Lieblingssong mit 1000facher Geschwindigkeit abgespielt.
Rob Arcand hat auf Vice schon 2016 vorhergesagt, dass Nightcore den Sprung aus der Nische schaffen wird.
Vielleicht funktioniert Geschichte genau so. Vielleicht kommen Thomas S. Nilsen und Steffen Ojala Søderholm für ein Schulprojekt in Norwegen Anfang des Jahrtausends auf die Idee, vorhandene Trance-Songs 25 Prozent schneller abzuspielen, und 10 Jahre später beginnen YouTuber*innen, davon inspiriert, hochgepitchte Versionen bekannter Popsongs ins Netz zu stellen, und weitere 10 Jahre später wird der Song „Dance Monkey“, der sich an diesem Sound orientiert, einer der meistgestreamten Songs auf Spotify, mit weltweit über zwei Milliarden Streams und weiteren 1,5 Milliarden Video-Aufrufen auf YouTube.
„Nightcore“ ist beschleunigte und hochgepitchte Popmusik, eine Kunst ohne Handwerk, ohne Autor*in, ohne Subjekt – es ist der explizite Versuch, generisch zu sein, Autor*innenschaft und Individualität hinter sich zu lassen, reiner Edit zu werden. Ein Internetphänomen vom Anfang der 2000er Jahre, hochgespült durch kaum nachvollziehbare Viralitäts-
dynamiken, von dem Luis Krawen sagt, es hätte unser heutiges Verhältnis zur medial strukturierten Wirklichkeit vorweggenommen. In einem Setting zwischen Sauna und Comfort-Club-Atmosphäre werden die Schauspieler*innen zu Archäolog*innen des Phänomens Nightcore. Ihre Ausgrabungsstätte ist unsere hypertechnologische Gegenwart, in der das Mediale die grundlegenden Parameter unserer sinnlichen Wahrnehmung längst mitkonstituiert.
Aber: Nicht nur das Subjekt ist digital verschwunden – die Körper verschwinden immer gleich mit. Nur kommen sie am Ende der Viralitätsdynamiken als Realitätsdynamiken zurück, und nicht alle Internetphänomene sind so harmlos wie die in „Nightcore“ untersuchten. Und auch dann (und dann noch mehr) stellt sich die Frage nach dem*der Urheber*in, und damit nach der Verantwortung für Handeln. Ein Beispiel: Musiker, vegane Köche und andere posten Unsinn auf Telegram, Menschen versammeln sich auf der Straße, und in Idar-Oberstein erschießt ein Mann, von einem Grillabend in „guter Stimmung“ kommend, einen Tankstellenkassierer. Der Täter bereut sein Handeln später, offenbar ernsthaft. Er ist glaubhaft verzweifelt, er bemüht sich um Offenheit. Aber: Er kann sich nicht erklären, wie es zur Tat kam. Der Alkohol. Das Internet. Wegbrechende Umsätze in Folge der Pandemie. Der Suizid des Vaters, der zuvor versucht habe, die Mutter zu töten und sie schwer verletzte. Das Schlimmste aber, sagt er – „war die Maskenpflicht“.
Können wir mit den Echos unserer Sätze leben?
Sicher?
Aus Anlass des Todes von Sophie untersucht Matt Bluemink in diesem Artikel Mark Fischers These, dass die zeitgenössische Musik in einer Wiederholungsschleife gefangen ist, durch die neue Ideen weder kreiert noch erwartet werden.
Der Videokünstler Luis Krawen arbeitet bisher mit computeranimierten 3D-Welten, „Nightcore“ ist seine erste Theaterarbeit mit realen Schauspieler*innen auf einer Bühne. Roland Barthes hat einst über die Erwartung des „bürgerlichen“ Publikums geätzt, als „Tauschhandel“ für sein Geld deutlich sichtbare Leidenschaft zu bekommen, „einer entsetzlichen körperlichen Anstrengung beizuwohnen, einem ungeheuren Auswringen der inneren Gewebe“, der Schauspieler müsse „von einem wahren Feuer der Leidenschaft durchglüht sein“ und „um jeden Preis »kochen«, das heißt zugleich brennen und sich verströmen“. Bis heute ist der sicherste Weg für Schauspieler*innen, einen Oscar zu gewinnen, körperliche Torturen auf sich zu nehmen, siehe Robert de Niro, Charlize Theron oder Leonardo di Caprio. Eine Woche nicht duschen, wie Benedict Cumberbatch, reicht da nicht, denn erst „wenn der Schauspieler es versteht, ohne Tricks seinen Körper vor meinen Augen schuften zu lassen, wenn ich nicht an der Mühe zweifeln kann, die er sich gibt, dann werde ich ihn zu einem ausgezeichneten Schauspieler erklären“.
Nun, schwitzen kann man auch ganz ohne Leidenschaft, zum Beispiel durch echte 70 Grad in einer Sauna auf der Bühne. Und vielleicht ist dies insgesamt eine gute Zeit, sehr viel vorsichtiger zu Werke zu gehen. Denn was, wenn jedes unsere Worte und Handeln durch die endlose Feedbackschleife des Internets tatsächlich Folgen hat? Sollten wir dann nicht vielleicht, wie der Minotaurus aus Michael Endes Geschichte, sehr sorgsam unsere Schritte wählen? Wenn wir neu kalibrieren wollen, wie wir mit dem Verhältnis von digitaler und analoger Realität umgehen können, ist es womöglich schlau, den hochge-
pitchten Hyperloops die entschleunigte Wahrheit der Körper entgegen zu setzen, mit der Langsamkeit von stetig gleichen Bewegungen zu spielen und in die Ewigkeit der digitalen Echos unserer Stimmen hineinzuhorchen. Wer weiß, was wir finden.
Harald Wolff
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