Theaterkasse
Maximilianstraße 26-28
Mo-Sa: 11:00 – 19:00
+49 (0)89 / 233 966 00
theaterkasse@kammerspiele.de
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Mit Gabi Blum, Patrick Gruban, Emanuel Mooner und Matthias Stadler haben sich vier Münchner Künstler*innen, Aktivist*innen und Kulturvermittler*innen zusammengetan, um Narrativen jenseits der schönen Stadt nachzuspüren und Episoden und Figuren der Münchner Szene außerhalb des Mainstreams zu dokumentieren. Ausgehend von ihren Netzwerken haben sie im Rahmen der Residenz an einer installativen Auseinandersetzung mit dem Stadtraum gearbeitet und ihre Sammlung und Forschung zum künstlerischen Schaffen in einer von Raumnot geprägten Stadt in einem Online-Archiv veröffentlicht.
14. September - 2. Oktober 2021 im Habibi Kiosk
Text von Matthias Stadler
„Und hier seht ihr die Fratzen der Vergangenheit“ sagt Robert Hoffmann, als wir beim TAM TAM Lehel-Spaziergang vor dem Eingang des ehemaligen TAM TAM Tanzlokales angekommen sind. Sehr seltsam hier. Wen meint er jetzt eigentlich? Die beiden Tänzerinnen mit Clownsnasen wohl kaum. Sehr aktuell. Die Igitte Schwestern? Bestimmt nicht. Gerade in der Hochphase, wenn nicht Blüte ihrer Karriere! Unsere Gruppe? Sehr lebhaft. Ach, er schaut ja durch die Fenster in die ehemalige Bar. Ja, was ist denn da los? Überall hängen Marionetten. Tanzen die? Ist die Zeit hier stehen geblieben? Waren wir damals so drauf? Hat sich jemand wirklich die Mühe gemacht, uns alle zu porträtieren?
Seit Mai 2017 muss da jemand wirklich viel geschnitzt haben. Seitdem ist das Lokal zu. Aus heiterem Himmel hieß es, diese heitere Pausenfläche ganz unten darf nicht mehr verlängert werden. Mehr als dreimal drei Monate geht einfach nicht. Sie müssen jetzt eine richtige Gastronomie werden! Mit Parkplätzen vor der Tür, damit dann auch alle Betrunkenen heimfahren können. Sie müssen Gutachten zum Brandschutz, zur Klangemission, etc. einholen. Das kann dauern. Umnutzungsantrag bei der LBK. Das kann dauern. Aber Sie haben ja jetzt eh Zeit. Vielleicht ist das Schnitzen genau die richtige Tätigkeit für Sie. Als Betreiber einer Pausenfläche sind Sie ja daran gewöhnt. Alle dürfen dort Pause machen. Aber so lange? Wenn um 22 Uhr das Theater aus ist, bis es wieder los geht. Das kann dauern. Viel Zeit zum Schnitzen. Aber wie soll man dann von da unten wieder raus kommen?
Robert Hoffmann, auch genannt Goofy, hat gleich zu Beginn das TAM TAM Tanzlokal auch als untergehendes Schiff bezeichnet. Alle Lichter im Raum hatten die Form von Luken, alles symmetrisch aufgebaut und wenn die Leute wirklich den Laden gefunden haben, beim Eintritt auf der Balustrade standen, fragten sie uns nicht selten unten hinter der Bar im Schiffsbug, wo der Club sei? Ihr steht mittendrin! Kommt doch mal runter! In dieser Pausenfläche darf auch getanzt werden. Aber Vorsicht, so leicht kommt ihr da nicht mehr raus. Es kann sogar sein, dass ihr porträtiert werdet.
Einmal, zu ganz später Stunde, zeigte uns ein Gast am Dancefloor eine exakte Zeichnung des Raums - aber mit Hunden gefüllt. Pablo hieß er und bis heute sind wir gute Freunde. Er hat in den darauffolgenden Wochen auch immer mehr Hunde in den Raum gezeichnet. Dazwischen ganz viele Tags, Aufkleber, Delfine, Rettungsringe, ein Wolfskopf, Schuhe und andere Hinterlassenschaften. Berge an Kleidung. Bis auf Unterhosen, mussten wir uns bis heute keine Sorgen mehr wegen Kleidung machen. Aber jetzt sieht man nur noch Fratzen, wenn man durchs Fenster in diesen Raum blickt. Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Alles drumherum gesäubert, auch vor dem Eingang sind die Graffitis verschwunden. Keine Scherben am Boden. Stille. Nur noch Fratzen. Was soll‘s? Irgendwie passt das ja auch sehr gut! Ein Jahr haben wir alles probiert. Eine selbstverwaltete Gastronomie werden wir wohl kaum in diesem Viertel.
Ziehen wir weiter. Nächste Station unseres Walks ist das Kosttor. Dort hat früher einmal die Armenfütterung stattgefunden. Daher der Name. Und heute? Wir sehen‘s ja: Nix! Wo früher das Atomic Café war, ist jetzt Lacoste. Wo früher das Blatt war, nix. Wo früher der kleine Slibowitz-Keller war, nix. Wo früher die Emmi war, nix. Unser gesamtes Subbavaria-Projekt in den Kammerspielen handelte um die Fratzen der Vergangenheit. Irgendwann kam es soweit, dass wir auf die große Stadtkarte in unserem Raum blickten und im gesamten Innenbereich der Stadt nur noch schwarze aufgemalte Kreuze sahen. Dann hab ich kürzlich eine Todesanzeige gesehen, in der stand, ich geh dahin voraus, wo die Vielen sind. Muss das denn wirklich so deprimierend sein? Jeden Tag in die Maximilianstraße, jeden Tag die gleichen Fassaden, Fratzen und einfach kein Ort mehr, wo man sich treffen kann? Wo man sich nix dabei denken muss? Wo alles und alle da sind? Wo alles möglich ist?
Mal sehen, wer denn hier eigentlich noch wohnt? Da war doch so ein Typ, der hier immer mit seinem Hund spazieren ging, mit Lennard diese Youtube-Sendung Oreos TV gemacht hat und immer eine riesen Show hinlegt, wenn er erscheint. Ach genau, Emanuele Espinoza. Wir müssen ihn unbedingt als Interviewgast in den Habibi Kiosk einladen. Eine Erscheinung, die wir nicht vergessen. Ein neuer Mooshammer für die Stadt. Gleich am nächsten Tag ist Emanuele im Habibi erschienen und hat uns alle Möglichkeiten aufgezeigt. Hier über uns wohnt eine Sängerin der Oper, die eine riesen Wohnung hat und mit uns was starten mag. Neben ihm in der Maximilianstraße wird eine günstige 1-Zimmerwohnung frei. Wollt ihr die? In der nächsten Querstraße gibt es diesen netten Feinkostladen, wo sich alle treffen, aber wo niemand wissen darf, wie berühmt die Kinder der Verkäuferin sind. Dort drüben ist der Concierge des Vierjahrenzeiten Hotels und vielleicht können wir auch gleich in den Spa-Bereich gehen. Alles möglich hier.
Ja, genau so kann es auch sein. Vielleicht sollten wir ja wirklich den Habibi Kiosk für immer besetzen. Das Potenzial ist da. Aus dem Schaufenster hinausschauen, ist wie Fernsehschauen. Den ganzen Tag kommen interessante Leute vorbei, sprechen mit uns über Gott und die Welt und die Vergangenheit. Vorne im Blauen Haus versteht zwar noch keiner so genau, was wir hier machen, aber das wird auch erst über unseren Output verständlich. Obwohl unser Laden schon sehr schön geworden ist. Unser Nadeldrucker druckt endlos, alles, was hier gesprochen wird, und das Papier bahnt sich seinen Weg durch den Raum. Wir müssen dieses Endlospapier mit seinen Endlosgesprächen aus dieser endlosen Vergangenheit raustragen, durch die Maximilianstraße, rein in die Zukunft. Wären da nicht den ganzen Tag auch Leute aus der Vergangenheit, die in den Habibi Kiosk empört rein schneien und uns nach Theaterkarten fragen. Hier war doch früher mal die Theaterkasse? Ja, dieses Theater ist auch nicht das, was es einmal war! Wenn ich ins Theater geh, will ich doch dieser Wirklichkeit entfliehen und nicht wissen, wogegen die jungen Leute protestieren. Ach, nehmen Sie doch erst mal Platz, ziehen Sie eine Nummer. Sie kommen gleich dran, wollen Sie einen Kaffee?
Ja, Subbavaria ist ein Slowmedium. Das haben wir gelernt. Es passiert nicht viel, aber es ist auch nicht totzukriegen. Die Infos, die dort zu finden sind, haben Nerds aufwändig zusammengestellt und sie überdauern alles. Myspace sowieso. Doch was machen wir jetzt mit dem ganzen Zeug, das wir in den letzten Wochen hier angesammelt haben? Wer hat heutzutage noch die Muse und das Geld, das alles zu sammeln, zu sichten, aufzubewahren, zu ordnen, zu katalogisieren, zu digitalisieren, zu beschreiben und aufzubereiten? Wir laden alles in den privaten und öffentlichen Archiven dieser Stadt ab und kümmern uns wieder um die Zukunft. Um Möglichkeiten, Luken und Lücken in dieser Stadt und zelebrieren den Untergang.
Was für ein Glück am Ende des Spaziergangs. Ein dickes Seil liegt über den gesamten Marstallplatz und der Schauspieler Max Mayer kommt auf mich zu. Super, dass ihr da seid! Ich wollte meine Performance mal vor Publikum proben. Gleich geht’s los. Er verschwindet und kurz darauf geht ein Scheinwerfer an und das Seil bewegt sich. Die Gruppe folgt über den Platz, in das Gebäude, durch die Katakomben des Theaters und wieder raus in den Hinterhof. Dort ist ein großes Loch gegraben im Boden. Darin mündet unser Walk. Max Mayer steht dort im Seil gewickelt. Er tobt und kämpft sich noch weiter in sein gewurschteltes Knäuel! Genau so ist das mit Leben, der Selbstverwaltung und den Möglichkeiten in dieser Stadt und am Land ist es ja eh noch mal ganz anders.