Theaterkasse
Maximilianstraße 26-28
Mo-Sa: 11:00 – 19:00 Uhr
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theaterkasse@kammerspiele.de
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Hier finden Sie Ansprechpartner*innen aus der Dramaturgie, Kunst und Technik.
REPARATURBEDARF
Am Beginn dieses Projekts stand der Begriff „Reparaturbedarf“. Dinge zu reparieren, das hieße auch, sie besser verstehen zu lernen, schreibt der US-Soziologe und Kulturphilosoph Richard Sennett. Schon 2020/21, in den ersten Lockdowns, wurde bedrückend deutlich, wie sehr so etwas wie ein direkter Austausch von Erfahrungen, eine direkte, nicht über Medien und digitale Netzwerke vermittelte Öffentlichkeit, zu der unter anderem auch das Theater gehört, gefährdet ist. Wie dünn die Schutzhaut jener (vermeintlicher) Sicherheiten ist, in denen sich Politik, Gesellschaft und, ja: Kunst und Kultur gewiegt hatten.
Man könnte – in Variation eines Gesprächs, das Alexander Kluge unlängst mit dem Online-Magazin MONOPOL führte – sagen: Die Pandemie (und seit einigen Wochen der Krieg) stellen auch die Kunst und die Kultur „vor Aufgaben“, sie nehmen sie geradezu in die Pflicht. Kluge: „Die Künstler sind die Entdecker der Wirklichkeit. Sie sind Ausgräber. Eine Tagesschau-Sprecherin kann nicht anfangen zu singen und deshalb Teile des Seelenlebens nicht ausdrücken. Die Medien sind kühl. Für das Entdecken der Heterotopie, der Sachlichkeit – die ist nichts anderes als die andere Seite der Empathie –, braucht man aber viele emotionale Gründe. Das ist nichts Kühles. Über das schiere Unglück kann ich am besten außerhalb des Unglücks nachdenken. Das ist es, was im Tempel der Ernsthaftigkeit, im Opernhaus und im Theater verhandelt wird. Das Theater zeigt den Bürgerkrieg des Seelenlebens in seiner Reinform. Das ist möglich, weil dort Othello Desdemona nicht wirklich tötet, sie steht hinterher wieder auf. Dadurch, dass die Wirklichkeit im Theater aufgehoben ist, kann man etwas ausdrücken, was man im Geschäftsleben oder im Bundeskabinett oder der Tagesschau nicht ausleben kann.“
Angesichts der sich dieser Tage wieder in extremis abbildenden Klüfte zwischen Geschichte und Eigensinn, Öffentlichkeit und Erfahrung oder der zunehmend disparat verschobenen „Maßverhältnisse des Politischen“, scheint die intensivierte Auseinandersetzung mit einem in jeder Hinsicht überbordenden Werk wie jenem von Alexander Kluge – „in Gefahr und höchster Not ist der Mittelweg der Tod“ – zumindest situationsadäquat. Auch am Theater, um das der Autor, Philosoph und Filmemacher eigentlich seit jeher einen großen Bogen gemacht hat. Und dass er gleichzeitig in seinen TV-Magazinen mit Gesprächspartnern wie Heiner Müller, Einar Schleef oder Christoph Schlingensief doch als Resonanzkörper größerer Beben wahrnimmt.
VERBEULTE DIALEKTIK
Es geht im Fall von „Wer immer hofft, stirbt singend“ letztlich aber auch gar nicht um eine „dramatisierende“ Nacherzählung von Texten, die Kluge vor allem in seinen Büchern („sie haben das längere Gedächtnis“) hervorragend gespeichert hat. Die titelgebende Geschichte unserer „Reparatur einer Revue“ ist ein exzellentes Beispiel dafür, dass man Kluges Variationen einer verbeulten Dialektik mit Adaptionen nicht beikommt. Der Lebenslauf seines Antihelden Antoine Billot, der da in einer Tour Krieg, Katastrophen und Seuchen überlebt – in der unvergleichlichen Lakonie Kluges taugt er weder als Szenario für einen Actionfilm und erst recht nicht für schauspielerische Glanzleistungen auf Theaterbrettern. Eher geht es Jan-Christoph Gockel, und dem Ensemble (inklusive der Puppen von Michael Pietsch) um ein „langsames Verfertigen der Gedanken“ beim Sprechen mit und nach Kluge, ein Spiel, zwischen Bühne und Kantine, das sich nicht in Mimesis erschöpft, sondern neuen Verknüpfungen von individuellen Lebensläufen und zunehmend massivem Druck in politischen, gesellschaftlichen, medialen Verwerfungen Rechnung trägt. Spielraumverlust, Zeitnot, Handlungsbedarf – was heißt das in der „aufgehobenen Wirklichkeit“ im Theater?
ARTISTEN, RATLOS
In Kluges Film „Artisten in der Zirkuskuppel: Ratlos“ (1966), dessen Script irgendwann zu einem der Leitfäden unserer „Revue“ wurde, erzählt der Zirkus-Revolutionär Manfred Peickert: „Ich sage: Herr Direktor, könnte man die Elefanten in die Zirkuskuppel hieven? Der Direktor sagt: Selbstverständlich. Ich habe bloß Bedenken, ob die Konstruktion hält. Ich sage: Aber Sie müssten doch zugeben, es wäre etwas völlig Neues. Direktor: Wieso Neues? Ich finde es seltsam und sehr irrational. Ich sage: es muss irgendetwas platzen, wenn die Elefanten mit einem Ballon hochgezogen werden. Der Direktor sagt: Das ist mir alles zu irrational. Ich sage: Es bringt ein starkes Gefühl.“
Klar ist: Das geht nicht gut, aber das ist erst der Anfang: Nachdem Manfred bei einem weiteren spektakulären Stunt ums Leben kommt , stellt sich seine Tochter Leni Peickert (im Film verkörpert von der grandiosen Hannelore Hoger) vor, „dass sie einen eigenen Zirkus begründet, einen Zirkus, der eines Toten wert ist. Sie sagt: ich will den Zirkus verändern, weil ich ihn liebe. Weil sie ihn liebt, wird sie ihn nicht verändern. Warum? Weil Liebe ein konservativer Trieb ist. Leni: das ist nicht wahr.“
Man könnte so einen Plot als Ausgangspunkt für ein Lehrstück von Brecht lesen. Man könnte ihn, wie Max Ophüls mit „Lola Montez“, als veritables Technicolor-Melodram denken. Man könnte, in bester Boulevard- und Kolportage-Tradition einfach nur rührselig sein: Nur die Liebe zählt! Alexander Kluge hingegen dachte und denkt nicht in derlei dramatischen Kategorien. Der „Reformzirkus“, dem Leni Peickert anhängt, war für ihn vor allem Sinnbild einer bundesdeutschen Gesellschaft, in der sich zwar immer wieder Kunst und Philosophie zu kühnsten Hochseilakten aufschwingen, gleichzeitig aber eine seltsam dröge Schwerkraft der Verhältnisse wirksam bleibt, bei der die Abdrücke von Elefantenfüßen im Manegensand bestenfalls von überkommenen „Allmachtsgefühlen“, von Ausbeutungs-Verhältnissen erzählen. „Zirkus“ beschreibt den Menschen, wenn er sich als Dompteur der Natur (Tiere, Umwelt, andere Menschen) aufführt.“
Reformzirkus hingegen – bei Kluge sind das die teilweise sehr systematischen Versuche, diesem Sich-Aufführen (oder: diesen Aufführungen) Etwas entgegenzuhalten.
Insofern ist es nur konsequent, dass in seine Bilder des Reformzirkus‘ Sitzungen (quasi Trapezakte) der literarischen „Gruppe 47“ ebenso Eingang fanden, wie, völlig am Boden, Spektakelanstrengungen eines zunehmend erratisch agierenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sichtlich geschult am „Antirealismus des Gefühls“ in der russischen Filmavantgarde (Vertov) und der französischen Nouvelle Vague (Godard), setzte Kluge auf eine Dramaturgie der Konstellationen, in der sich Gegensätze durchaus nicht anziehen müssen, um doch im selben Bildausschnitt verharren zu können. Auch in der Montage finden die Dinge und Menschen und Sehnsüchte nur bedingt zu Näheverhältnissen. Schnitt bei Alexander Kluge, dem Film- und TV-Macher, wie auch dem Literaten und Philosophen, das ist nicht selten etwas, was von Ab-Trennungen erzählt.
Die Hintergründe von Kluges Erzählen und Denken – wie etwa die Auseinandersetzung mit Kritischer Theorie, der Frankfurter Schule oder der Geschichte(n) des Kinos – werden dabei ebenso schlagend wie seine Auslassungen zu Öffentlichkeit und Erfahrung, Geschichte und Eigensinn sowie der sich dabei erschließenden „Lücke, die der Teufel lässt“. „Die Umstände treten separiert voneinander auf, marschieren aber irgendwann gemeinsam los“: Kluge, der Dichter, ebenso der Essayist und der Cineast macht sich auf zu Sammelbewegungen („das Poetische als Einsammelvorgang“, wie in den Märchen-Kompilationen etwa der Gebrüder Grimm), bis die Archive, ähnlich den Zeitläuften, in denen wir uns zu orientieren versuchen („Lernprozesse mit glücklichem Ausgang“, möglicherweise) zu spinnen beginnen. Arachne ist Alexander Kluges Lieblingsmuse; seine Filmfirma trägt den Gott der günstigen Gelegenheiten, die man nur beim Schopf packen muss: Kairos.
Wie heißt es hingegen einmal zum Tod von Lenis Vater im Film: „Eines Tages besteigt Manfred Peickert wieder das Hochreck. Die Hände werden mit Magnesiumtalg eingerieben. In der Magengegend wird Adrenalin ausgeschüttet. Die Springer führen ihre Trapeznummer aus. Beifall. Tusch. Da überfällt Peickert Melancholie. Er fasst die Hand des Partners nicht, so dass er sich das Genick bricht. Manfred Peickert stürzt ab.“
DIE WELT ALS ZEITBOMBE
Man kann jedes Buch von Alexander Kluge, jeden Film, jedes Gespräch an einer beliebigen Stelle herbeizitieren, um sofort auf Ausgangsmaterial zu stoßen, von dem aus sich sinnträchtige Pfade durch die Unübersichtlichkeit schlagen lassen. Vor mir liegt beispielsweise gerade etwa ein nicht besonders häufig gelesenes Bändchen der edition suhrkamp mit dem grandiosen Titel „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode“ (1975). Und es endet mit folgender Passage „Gibt es nur ein Entweder Oder? Oder Kompromisse in Form von Nein oder Ja? Dagegen vertrat ein spanischer Gastarbeiter, dessen deutsche Freundin neben ihm saß und die die Schwester eines deutschen Arbeiters ist, der auch seine Freundin bei sich hatte, die wiederum ihren Freund und dessen deutschen Freund begleitete, den Standpunkt: „Das Leben der Menschen ist eher strahlenförmig.“ Diesen Strahlen zu folgen, quer durch kontaminiertes Gebiet – das wäre eine Herausforderung, der wir uns mit Alexander Kluge stellen wollen.
Im Katalog zur Ausstellung „Pluriversum“ (2017) sagt Alexander Kluge in einem Gespräch mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist: „Ich glaube nicht, dass wir isoliert und als Einzelne arbeiten sollten. Sondern dass wir unsere Eigenständigkeit, also auch unsere Widerspruchsfähigkeit, unseren Eigensinn am besten verwirklichen, wenn wir im Dialog sind. Dialog hat nicht zur Folge, dass ich meine eigenen Ansichten verflache, sondern dass sie überhaupt erst hervorgerufen werden.“ Es gehe um „Gärten der Kooperation“, so Kluge und verweist, wo es möglicherweise um verstreute Mitteilungen, vielleicht sogar um Zerstreuung gehen könnte, umgehend auf einen harten Kern seiner Überlegungen, „nämlich die Frage, wie antworten wir auf die Bombe. Unsere Welt ist gewissermaßen eine Zeitbombe. Werden wir das tödliche Potential dieser Bombe mitten im Flug (wir mittendrin) ausschalten können. Es geht nichts über Reparaturerfahrung.“
Claus Philipp
Vier Texte aus Alexander Kluges Buch ZIRKUS/KOMMENTAR (2022)
Der B-Film zu DIE ARTISTEN IN DER ZIRKUSKUPPEL: RATLOS
Es gelingt der Zirkusdirektorin Leni Peickert und ihren ehemaligen Mitarbeitern, einen subversiven Film in die Abendnachrichten des Fernsehens zu schmuggeln. Allerdings erscheint der Beitrag den Zuschauern überhaupt nicht Besonders. Leni und ihre Mitarbeiter werden entlassen und gehen zum Zirkus, den Leni zu einer subversiven Kampfgruppe umwandelt.
Seit dem Zeitalter der Aufklärung gibt es den Zirkus. An der Wende zum 20. Jahrhundert gesellte sich zu Jahrmarkt, Varieté und Zirkus das Kino. Die Nummerndramaturgie und das Erzählprinzip des Zirkus reichen weit über das traditionelle Zirkuszelt hinaus und bildet immer neue Genres.
Für die Märkte ist die Neuanschaffung, das Wegwerfen des Alten ein Ideal. In Notzeiten weiß man das Gegenteil zu schätzen: die Reparaturerfahrung. Sie ist heute der einzige Weg, sagt Prof. Dr. Heckl, das in ein technisches Gerät eingebaute Wissen selber zu erfahren. Produkte, in denen der Zugang zur Reparatur künstlich versperrt wird, damit man sie bei Versagen wegwirft und neue erwirbt, verdummen den Nutzer.
Fahnen flattern im Nachtwind / Nächtlicher Abbau der Zelte / Ausrücken des Zirkus aus den Winterquartieren im Frühling / Kunststücke der Elefanten / Unglück am Trapez / ruhige Bilder aus der Lebenssphäre des Zirkus, der die Massenplakatierung erfand.
Muss die Kunst angesicht des Kriegsschreckens schweigen? Im Gegenteil, jetzt ist sie gefordert wie nie, sagt der Autor und Filmemacher Alexander Kluge. Ein Gespräch mit Daniel Völzke von MONOPOL - MAGAZIN FÜR KUNST UND LEBEN, über Kulturboykotte, Nachrichtenbilder und die Möglichkeit von Frieden. Mehr…
Eine Matinee mit Alexander Kluge, Hannelore Hoger und Sir Henry vom 13.2. 2022 in den Münchner Kammerspielen.
„Kommentare sind kein lineares Narrativ.
Sie sind Bergwerke, Katakomben,
Brunnen, die stollenartig in die Tiefe
graben. Es reizt mich, diese besondere
Form des Erzählens neu zu erproben.“
Alexander Kluges neues Buch führt weit zurück in die Bibliothek von Alexandria und in die mittelalterliche Scholastik. Von dort geht es in die Jetztzeit. Der Autor schlägt einen Bogen über die Knotenpunkte eines „Langen Jahrhunderts“, der bis heute reicht. Ausgangspunkt der Erzählung ist der düstere Advent 2020. Ein Virus stellt an unsere Gewohnheiten und unsere Intelligenz hartnäckige Fragen in ganz neuer Beleuchtung: Wie verlässlich sind die obersten Führungsetagen unserer Welt? Wie zerbrechlich ist der Mensch? Was ist ein „Selbst“, ein „Ego“ und ein „Ich“? Alexander Kluge präsentierte sein Buch, umrahmt von Minutenfilmen und musikalischen Einlagen von Sir Henry, gemeinsam mit Hannelore Hoger.
Moderation: Claus Philipp
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