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Von Thomas Macho
Tiere oder Menschen? In den meisten Epochen der Kulturgeschichte wurden die Grenzen zwischen Tieren und Menschen nicht scharf gezogen, sofern man sie überhaupt mit Hilfe abstrakter Gattungskategorien definiert hat; ein Begriff vom Tier versteht sich ja ebenso wenig von selbst wie ein allgemeiner Begriff des Menschen. Erst in der modernen Anthropologie wurde es üblich, den Menschen als Tier zu charakterisieren, das sich von allen anderen Tieren durch spezifische Differenzen unterscheidet: als einmaliges Tier, das sprechen, arbeiten, lernen, spielen, weinen, lachen, morden und Kriege führen kann; als geselliges und einsames Tier; als zeitliches Tier, das -losgerissen vom „Pflock des Augenblicks“ - als sorgendes und rächendes, planendes und trauerndes Tier erscheint, als Tier, das erinnern kann und „versprechen darf“? (…) Nicht alle Tiere waren den Menschen gleichermaßen nahe. Manche Tiere - Rinder oder Pferde beispielsweise -fügten sich in ein Wahrnehmungsschema von Herr und Knecht; andere Tiere wurden in das Muster von Jagd und Flucht, Verfolgung und Erbeutung integriert.
Gewisse Tiere konnten als Erscheinungen von Göttern oder Dämonen fungieren; sie betraten als Symbole der Macht und Stärke, aber auch als Verkörperungen düsterer Fremdheit die Bühnen menschlicher Einbildungskraft. Kein Tier jedoch blieb während mehrerer Jahrtausende so vielfältig interpretierbar, so polyvalent, so vertraut und fern zugleich wie das Schwein. In manchen Kulturen - vom alt-ägyptischen Reich bis nach Indonesien und China - wurden schon die Ferkel zärtlich gefüttert oder gar von menschlichen Ammen gesäugt; im Nahen Osten dagegen, in der jüdischen wie in der islamischen Religion, war der Genuss von Schweinefleisch streng verboten: und also auch jede Intimität mit Ferkeln. Im Zyklus der babylonischen Tierkreiszeichen kommen die Schweine nicht vor; in China allerdings wird bis heute das Jahr des Schweins gefeiert.
Schweine gelten dort als besonders ehrliche Tiere - Menschen, die in Schweinejahren geboren wurden, sollen sich durch Toleranz, Vertrauen, eine hohe Moral und ritterliche Tugenden auszeichnen. (…)
Ein Ehrentitel? Was im Fernen Osten als wertvoll angesehen werden mochte, konvertierte in der europäischen Kulturgeschichte leicht zum Anlass von Schimpf und Spott. Obwohl noch im Mittelalter zahlreiche Wappen und Ortsnamen
die Identifikation mit dem Schwein – zumindest mit dem männlichen Eber - bezeugen, wurden im 15., und 16. Jahrhundert angeblich zänkische oder geschwätzige Frauen mit eisernen Schandmasken (in Form von Schweinegesichtern) an den Pranger gestellt. Und während die asiatische Glückssymbolik der Schweine auch im Abendland Fuß fasste, verbreiteten sich zur selben Zeit ungezählte Schimpfworte in verschiedensten Dialekten und Sprachen Europas, in denen das „Schweinische“ mit Schmutz, Gier, Dummheit oder zügelloser Sexualität assoziiert wurde.
Ähnlich widersprüchlich sind die überlieferten Sprichworte und Redensarten. So wird in Luthers Tischreden eine derbe Beschimpfung mit dem Ausdruck „jemand eine Sau geben“ umschrieben; „dans le cochon tout est bon“ („vom Schwein ist alles gut“), heißt es dagegen im Französischen. „Swine, women and bees cannot be turned“, sagen die englischen Bauern (und die deutschen: „Schweine, Bienen und Weiber machen viel Not dem Treiber“). Die meisten Sprichworte beziehen sich gar nicht auf Schweine, sondern auf Menschen. Wer etwa nach anfänglicher Besserung seine schlechten Angewohnheiten wieder aufnahm, wurde mit dem Satz gerügt: „Das Schwein wälzt sich nach der Schwemme wieder im Kot“; und wer sich wegen übler Nachrede kränkte, hörte vielleicht das geflügelte Wort: „Man verklagt keine Sau, die einen besudelt.“ Wer mit Fleiß und ohne große Rhetorik seine Arbeit erfolgreich verrichtet hatte, konnte dagegen gelobt werden mit dem Ausspruch: „Stille Schweine wühlen die größten Wurzeln aus.“
Andere Beispiele für alltägliche Redensarten hatten ursprünglich gar nichts mit Schweinen zu tun. Der Ausruf „Ich habe Schwein gehabt“ lässt sich entweder auf Kartenspiele zurückführen, in denen das Trumpf-As „Sau“ genannt wurde, oder auf jene Schweine, die bei mittelalterlichen Wettspielen als Trostpreise fungierten.
Und der Satz „Das kann kein Schwein lesen“ bezieht sich angeblich auf eine Gelehrtenfamilie namens Swyn, die im 17.Jahrhundert in Schleswig lebte. Diese Familie war sehr hilfsbereit, weshalb die Bauer der Umgebung vertrauensvoll mit Briefen und Urkunden zu ihr kamen, um sich die Schriftstücke vorlesen oder abfassen zu lassen. Wenn selbst ein Angehöriger dieser Familie eine unleserliche Schrift nicht entziffern konnte, hieß es: „Dat kann keen Swyn lesen!“ Die Familie wurde bald vergessen, ganz im Gegensatz zum Schwein - und vielleicht hat sich aus dieser Redensart die spätere Charakterisierung einer schwer lesbaren Handschrift als „Sauklaue“ ergeben.
Die Schweine sind den Menschen nah, im Guten wie im Bösen; als Tiere sind sie geradezu die Doppelgänger der Menschen, ihre behuften Schattenrisse (wie auf manchen Karikaturen).
So erklären sich die „Saupreußen“, „Schweinepriester“, „Frontschweine“, „Pistensäue“ oder „Schweinehunde“.
Schon physiologisch sind Schweine und Menschen einander ähnlich, was sich nicht nur in vergleichbaren Krankheitsbildern zeigt, sondern auch in der rosigen Hautfarbe, in Struktur und Beschaffenheit des Fleisches. Schweine fressen, was wir essen; und seit Jahrhunderten wird immer wieder behauptet, Schweinefleisch schmecke wie Menschenfleisch. In der Gerichtsmedizin wurden früher Stich- und Schussverletzungen an frisch geschlachteten Schweinen nachgestellt; im 20.Jahrhundert experimentierten die Mediziner mit der Transplantation von Schweineorganen. „Hunde schauen zu uns auf, Katzen auf uns herunter, Schweine aber betrachten uns als ihresgleichen“, soll Winston Churchill gesagt haben, und er verschwieg lediglich, dass wir auch umgekehrt die Schweine als unseresgleichen betrachten: „Menschen sind senkrechte Schweine“, behauptete Edgar Allan Poe. Und David Cooper bemerkte in seinem Buchmanifest zum Tod der Familie (von 1971): „Natürlich sind Menschen Schweine. Und menschliche Institutionen sind natürlich Schweineställe.“
Was heißt hier aber schon „natürlich“? Die Verwechselbarkeit von Schweinen und Menschen - die „Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch“ (so Gottfried Benn) - bleibt im Grunde ein Rätsel: ein Rätsel, dem zahlreiche Beispiele aus der Kunst- und Kulturgeschichte […] Ausdruck verleihen.
Schweine werden gejagt, aber sie werden auch als Jäger dargestellt; Schweine werden gekocht, aber sie werden auch als Köche - Bierkrüge, Salzstreuer, Toaster - dargestellt; Schweine bringen Glück, aber sie werden auch als Glücksspieler und Kegelbrüder dargestellt.
Kaum in Alltagsgegenstand ist denkbar, der nicht irgendwann einmal die Form eines Schweins annehmen kann, kaum ein Gedanke, der nicht irgendwann einmal die Metapher des Schweins - zumindest insgeheim - zitierte.
„Ich liebe die Schweine“, bekennt Cora Stephan. Sie „wären des Menschen bester Freund, erschräke dieser nicht vor seiner Ähnlichkeit mit dem sprachgewandten Borstentier. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ähnlichkeit zu erbitterter Feindschaft geführt hätte.“
Aus dem Buch „Arme Schweine EINE KULTURGESCHICHTE“ Herausgegeben von der Stiftung Schloss Neuhardenberg in Verbindung mit Thomas Macho
Domestiziert vor mindestens 9.000 Jahren, ist das Schwein eines der ältesten Nutztiere des Menschen. Heute ist es der wichtigste Fleischlieferant Deutschlands und eine tragende Säule der heimischen Landwirtschaft. Die Schweinehaltung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rasant gewandelt: Zunehmend prägen diesen Produktionszweig hoch spezialisierte Betriebe mit großen Tierbeständen.
Die Schnitzelfrage erregt die Gemüter: Ob jemand Fleisch isst oder nicht, ob Bio-Pute oder Billig-Burger, wird oft zu einer Frage der Weltanschauung. Höchste Zeit für ein paar Fakten zum Fleischkonsum.
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