MK:

Digitales Programmheft „Oh Schreck!“

Vom Stolpern „verlorener Seelen“

„ICH BIN JA NOCH DA“

Max Schreck. Ein Name wie ein Programm. Als Vampir in F. W. Murnaus Film „Nosferatu“ wurde der Schauspieler Schreck international zur Kultfigur: Gleichzeitig war er Mitte der 1920er, später wieder Anfang der 1930er Jahre meist in Neben- und Kleinstrollen besetzter Schauspieler an den Münchner Kammerspielen. Angeblich soll er immer noch in den Kellern an der Maximilianstraße hausen. Schon in einem Nachruf nach seinem frühen Tod 1936 hieß es: „Immer wieder dachten wir, unser Max musste doch plötzlich aus irgendeiner Türe, irgendeiner Kulisse wieder hereinkommen und sagen: Ich bin ja noch da.“

Oh Schreck! – Was würde so ein blinder Passagier für das Theater heute bedeuten, in einer Zeit dräuender neuer Tyranneien und ideologischer Schwindel-Gefühle, in der zunehmend die faschistischen Dämonen des letzten Jahrhunderts als abschreckende Beispiele herbeizitiert werden? „Niemals war eine Zeit von solchem Entsetzen geschüttelt, von solchem Todesgrauen. Niemals war die Welt so grabesstumm. Niemals war der Mensch so klein. Niemals war ihm so bang. Niemals war Freude so fern und Freiheit so tot. Da schreit die Not jetzt auf: Der Mensch schreit nach seiner Seele, die ganze Zeit wird ein einziger Notschrei. Auch die Kunst schreit mit, in die tiefe Finsternis hinein, sie schreit um Hilfe, sie schreit nach dem Geist: das ist der Expressionismus“ – so zitierte jüngst der Filmkritiker und Popsoziologe Georg Seeßlen den Schriftsteller Hermann Bahr aus der Krisenzeit, in der „Nosferatu“ entstand, und befindet mit Blick auf heute und das neue Remake von Robert Eggers: „In jeder Krise erscheint ein neuer Nosferatu, während die Draculas eher für die ruhigeren Zeiten stehen. Wenn es jetzt einen neuen Nosferatu gibt, weiß man zumindest, dass die Zeit der gemütlichen Kaminfeuer-Vampire vorbei ist und wieder einmal nach der verlorenen Seele geschrien werden muss.“

DER SCHADEN UND DIE FREUDE

Man könnte sagen: Dieses Schreien hat seine komödiantischen (lachhaften) wie auch tragischen (grauenerregenden) Seiten. Und die Krise in ihren zunehmend weniger leicht analytisch zu fassenden Erscheinungsformen – sie bietet der Populärkultur immer einen immens fruchtbaren Boden für Unterhaltung in Zeiten, in denen der Kampf um zukünftigen Unterhalt wenig Anlass zu Optimismus gibt. Hier Kabarett, Boulevard, Seifenoper, Gameshow, Operette, leichte Kost („Der Sturm im Wasserglas“), dort düstere Fabeln von Doppelgängern, Geistererscheinungen, von Dämonen behausten Gegenwelten. Und in Zeiten, in denen nicht zuletzt Superreiche auch immer gerne „Blutsauger“ genannt werden, stellt sich immer wieder die Frage: Muss man andere aussaugen, um selber zu überleben, oder geht das auch anders?

„Oh Schreck!“, das Stück, das nach einer Idee und in der Regie von Jan-Christoph Gockel gemeinsam mit dem Ensemble und Team der Kammerspiele erdacht und realisiert wurde, nimmt diese Frage beim Wort. Wie in jeder guten Komödie geht es dabei um Einsamkeit, um Fehlleistungen und Irrtümer, um das Große Tägliche Stolpern und um Bedeutsamkeiten, die sich am nächsten Tag fast schon wieder ein wenig peinlich ausnehmen. Es geht um Abstürze, die sehr weh tun können, und um Happy Ends, die vielleicht nur eine kurzlebige Illusion sind. Aber was tut man nicht oft, wenn man jemanden hinfallen sieht? Man lacht. Kurz: „Oh Schreck!“ ist nicht nur eine haarsträubende Farce, es ist auch ein Versuch, die Welt im Theater zu spiegeln. Das Blöde und Gruselige bei Vampiren ist nur, dass man sie im Spiegel nicht sieht. Eine Komödie? Eine Tragödie? Der nackte Wahnsinn?

Freuen Sie sich also auf fulminante Stummfilm-Klavierbegleitung, live gezeichnete Grusel-Tableaus, auf ein Ensemble sehr lebendiger Vampire, Menschen, Schauspieler, Selbstdarsteller und Puppen. Zittern Sie mit beim Versuch, „Nosferatu“ mit Max Schreck noch einmal auf der Bühne der Kammerspiele zu realisieren. Alle, vom ambitionierten, ahnungslosen Theaterintendanten bis zur sprachgewaltig sich verhaspelnden Vampirjägerin, vom ewigen Kinderstar bis zum Theater-Doyen, der regelmäßig um seine Lebensbescheinigung bangt: Wenn es sie nicht gibt, dann haben wir sie erfunden. Ansonsten gilt mit F. W. Murnau: Man muss einen Vampir nicht „spielen“, es genügt, einer zu sein. Lassen Sie sich beißen!

Claus Philipp

Zur unheimlichen Karriere eines besonderen Vampirs.
Von Frank Schmidt

„Phantome der Nacht. 100 Jahre Nosferatu“. Unter diesem Titel organisierte 2022 die Nationalgalerie – Staatliche Museen zu Berlin eine Ausstellung und publizierte einen Katalog, in dem die Wechselbeziehungen des Films zur bildenden Kunst eindrucksvoll beleuchtet wird. Wir veröffentlichen hier einen Essay daraus.

Max Schreck & Nosferatu

Rattenzähnig, riesenohrig, mit Krallenhänden und spinnenhaften Gliedmaßen: Der Vampir, den F. W. Murnau mit Max Schreck im Jahr 1925 im Stummfilmklassiker „Nosferatu“ imaginierte, ist vielleicht (noch) nicht so populär wie Dracula. Aber in Krisenzeiten taucht er immer wieder auf. Zum Start des neuen Nosferatu-Remake von Robert Eggers folgt Georg Seeßlen der blutigen Spur des einsamen ­Unholds von den Klassikern in die Pop-Moderne.

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Um Max Schreck, den Darsteller des Vampirs Graf Orlok in „Nosferatu“ (1925), ranken sich viele Gerüchte. Den plötzlich verstorbenen Schauspieler soll eine seltsame Aura umgeben haben – manche halten ihn sogar für einen echten Blutsauger.

Lesen Sie hier eine Reminiszenz von Josef Schnelle in der SZ.

Eine kurze Biografie des Mannes, der bis 1936 an den Münchner Kammerspielen tätig war.

„Zu sterben, wirklich tot zu sein – das muss herrlich sein!“
„Aber Graf Dracula…“
„Es gibt viel schlimmere Dinge, die der Mensch ertragen muss, als den Tod.“

Aus dem Film „Dracula“ (1931)

Die Kammerspiele in der Nazi-Zeit

In der Zeit, als Max Schreck an den Münchner Kammerspielen arbeitete, also unter der Direktion Otto Falckenbergs, wurden etwa 150 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Theaters nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verfolgt, viele ermordet. Später gerieten sie in Vergessenheit. Unter der künstlerischen Leitung von Martín Valdés-Stauber hat das Ehepaar Janne und Klaus Weinzierl in unschätzbarer Recherche historisches biografisches Material zusammengetragen, das auf der Webseite „MK: SCHICKSALE“ präsentiert und fortlaufend erweitert wird.

Lachen gegen Rechts

Ein „Koch“ in der Pfeffermühle von Erika Mann

Vom ersten bis zum 28. Februar 1933 stand Max Schreck auf der Bühne von Erika Manns Kabarett „Die Pfeffermühle“ in der Münchner „Bonbonniere“. Er trug im zweiten Programm dieses antifaschistischen Kabaretts Erika Manns Text „Der Koch“ vor, einen Text auf den allmächtigen, diktatorischen Brunnenvergifter, gegen den sich niemand mehr zur Wehr setzt: „Serviert von oben frißt mans doch. Ich bin der Koch.“

„Warum sind wir so kalt?
Warum, – das tut doch weh!
Warum? Wir werden bald
Wie lauter Eis und Schnee!

Beteiligt Euch, – es geht um Eure Erde!
Und Ihr allein, Ihr habt die ganze Macht!
Seht zu, daß es ein wenig wärmer werde
In unserer schlimmen, kalten Winternacht!“

Kälte (Text: Erika Mann, Musik: Markus Henning), „Pfeffermühle“, Zürich, 1. Januar 1934

Erika Mann und „Die Pfeffermühle“

Text: Erika Mann