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Programmheft "LA MER SOMBRE"

Im dunklen Meer von Claude Cahun

La mer sombre – das ist das dunkle Meer unserer Seele, unseres Begehrens und unseres Seins im Spiegel einer großen Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts: Claude Cahun (1894-1954). Regisseurin Pınar Karabulut widmet sich erstmals auf einer deutschen Bühne den schillernden Texten der symbolistisch-surrealistischen Autor*in und Fotograf*in aus Frankreich. Die Inszenierung collagiert frei und lustvoll Fragmente aus drei poetischen Werken und übersetzt ihren bittersüßen Narzissmus, die spielerische Ironie und die existenzielle Suche nach Freiheit für den eigenen Lebensentwurf in einen sinnlichen Abend für die geschundenen Seelen des Hier und Jetzt.

Claude Cahun verstand Geschlecht und Identität als performativ und war somit den gesellschaftlichen Normen der eigenen Zeit weit voraus. Geboren 1894 in Nantes als Lucy Renée Mathilde Schwob, gestorben 1954 auf Jersey; aufgewachsen in einer jüdischen Familie als Nichte des symbolistischen Dichters Marcel Schwob und Tochter des Herausgebers Maurice Schwob, eroberte Cahun sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Leben jenseits der Konventionen. Gemeinsam mit ihrer Stiefschwester und Lebenspartnerin Suzanne Malherbe – Künstlername Marcel Moore – war Cahun Teil der Pariser Avantgarde, war mit den Buchhändlerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach genauso befreundet wie mit Robert Desnos, Henri Michaux und André Breton.

Literarisch war Cahun stark vom Symbolismus sowie von tiefer Kenntnis der griechischen Mythologie und klassischer Werke geprägt. In ihren Texten sucht Cahun Licht und Schatten auf, arbeitet mit Schein und Sein: Das lyrische Ich bedient sich wechselnder Masken, probiert Liebes- und Lebensmodelle, und beginnt die ihm darin zugeschriebene Rolle zu befragen, zu überschreiben, umzukehren. In schmerzhafter Direktheit oder spielender Distanz sucht es die unbewussten Schichten auf, die von Norm und Moral zensiert werden. Ein Ich, das begehrt, das liebt, provoziert und leidet, nicht zuletzt, um sein eigenes Handeln und Leiden gespiegelt zu sehen, zu inszenieren.

Der Titel des Abends ist ein Verweis auf Cahuns Nähe und Liebe zum Meer, „die einzige Liebhaberin, deren Arme uns immer geöffnet sind“, das in Cahuns frühen schwärmerischen Texten „Vues et Visions“ („Ansichten und Visionen“) zum einen Projektionsfläche von träumerischen Visionen ist, zum anderen Quelle von Untiefen und Schatten. Damit ist es auch ein Spiegel der Seele, der hellen und dunklen, der bewussten und unbewussten Teile des eigenen Selbst, die vor allem in Cahuns experimentellen Hauptwerk, „Aveux non Avenus“ („Uneingestandene Geständnisse“), einer radikalen Befragung unterzogen werden.

In Karabuluts Inszenierung ist dieses Selbst schon immer multipel und tritt in der Verkörperung der Spielenden, Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof und Christian Löber, als szenisches WIR auf. Ein dreifaches WIR, als Dreieck zwischen Körper, Seele und Geist, um deren Konflikte und unaushaltbare Trennung Cahuns Texte immer wieder kreisen. Ein dreifaches WIR, das auch ein Spielfeld für die komplizierten Liebesbeziehungen eröffnet, die die Künstler*in erlebte und immer wieder beschrieb: zwischen sich und ihrem „anderen Ich“, wie Cahun Suzanne Malherbe nannte, und im „gordischen Kuddelmuddel“ mit anderen Liebhaber*innen, die die Szene ihrer Texte jederzeit betreten können.

Draußen, außerhalb des Kokons, den Cahuns lyrisches Ich sich manchmal baut, liegt die Welt, die unglücklich macht, weil sie bestimmt, was Sünde ist – drinnen das Versprechen von Lust am eigenen Begehren, die Konzentration aufs Fühlen und Genießenwollen, der Spaß an der Ironie, aber auch die unendliche, immer wiederkehrende Selbstbefragung, die Selbstzweifel.

Cahuns künstlerischen Prinzipien von Collage und Variation folgend, taucht Karabuluts Inszenierung in Cahuns Gedankenkosmos ein, spürt nach, wie die Texte heute im Mund liegen, lässt zeitgenössischen Diskurs auf literarische Manierismen treffen. Im Sinne des Surrealismus’ folgt der Abend einer postdramatischen Collage: ein Kaleidoskop von heutigen künstlerischen Perspektiven auf das Werk einer großen Künstler*in.

Olivia Ebert

In der Fassung verwendete Werke

Vues et Visions (Ansichten und Visionen)
Erschienen 1919 bei George Crès in Paris mit Illustrationen von Marcel Moore.

Héroïnes (Heroinnen)
Ab 1925 teilweise in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht, das Gesamt-Konvolut blieb unveröffentlicht. Eine Zusammenstellung auf Französisch erschien erst 2006 (Edition Mille et une nuits). Die deutsche Übersetzung von Magnus und Michael Chrapkowski und erstmalige Veröffentlichung des gesamten noch erhaltenen Konvoluts erscheint im Herbst 2022 im Arco Verlag.

Aveux non Avenus (Uneingestandene/Nichtige Geständnisse)
Erschienen 1930 bei Éditions du Carrefour in Paris mit Heliogravuren, die nach der Idee von Cahun von Moore eingerichtet wurden. Diese Heliogravuren werden heute als Teil Cahuns fotografischen Werks häufig aus dem Kontext ihrer eigentlichen Veröffentlichung entnommen und weltweit ausgestellt. Aktuelle französische Ausgabe: Mille Et Une Nuits, 2011. Englische Übersetzung: Disavowals: Or Cancelled Confessions, übersetzt von Susan de Muth, Tate Publishing, London 2007. Eine deutsche Übersetzung von Magnus Chrapkowski ist in Vorbereitung bei Ink Press.

Wir Claude

Ein Arte-Film gibt einen Überblick über Leben und Werk von Claude Cahun und Marcel Moore (Suzanne Malherbe).

Ein Artikel, der einen Überblick über das Leben von Claude Cahun, ihr künstlerisches und politisches Wirken, ihre Familie und Partnerschaft mit Suzanne Malherbe sowie ihre Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentität verschafft. Hierbei wird Fokus auf ihre fotografischen Selbstporträts gelegt.

Bisher sind Cahuns Werke nur auf Französisch und teilweise in englischer Übersetzung erschienen. Nun erscheint im Arco Verlag erstmals eine deutsche Übersetzung von Cahuns Spiel mit mythologischen und literarischen Vorlagen. In den „Heroinnen“ nimmt sie sich bekannte Heldengeschichte wie die Odyssee, Goethe’s Faust, biblische Vorlagen wie die Schöpfungsgeschichte, Salomé oder Judith und Holofernes und überschreibt sie radikal aus der Perspektive der Frauen, die meist nur als Nebenfiguren, Liebesobjekte oder Dekoration vorkommen. Mit diesen Masken geht sie über Grenzen des gesellschaftlichen oder moralisch Akzeptierten.

„Eine Sehnsucht macht sich breit. Das Singen der Sirenen rückt aus dem Hintergrund nach vorne.“

LA MER SOMBRE ist ein sinnlicher Abend voller Gedankensprünge, der viele verschiedene Blickwinkel zulässt. Clara Schiltenwolf, Dramaturgiehospitantin der Produktion, beschreibt eine mögliche Perspektive einer fiktiven Zuschauerin aus dem Publikumsraum heraus, voller Assoziationen und Anknüpfungen an die Gegenwart. Mehr…

Ein Artikel der Autorin und Filmemacherin Juliet Jacques über Claude Cahun und andere Surrealist*innen, die der Fetischisierung weiblicher Schönheit trotzten. Er erschien anlässlich der Ausstellung FANTASTISCHE FRAUEN in der Schirn Frankfurt, die sich den Künstlerinnen des Surrealismus widmete. Mehr…

Claude Cahun und Marcel Moore leisteten Widerstand auf der britischen Insel Jersey, auf der sie 1937 ihren neuen Wohnsitz fanden, diese war während des zweiten Weltkrieges von deutschen Streitkräften besetzt. Sie verteilten Flugblätter und entwarfen Fotomontagen.

Die fotografischen Selbstportraits und Collagen Claude Cahuns erscheinen in ihrer Genderperformativität und Direktheit frappierend aktuell. Die Bedeutung ihres Werks wird zunehmend anerkannt. Aktuell werden einige Fotografien im zentralen Pavillon der Biennale in Venedig ausgestellt.